Die Verurteilung der Schriften Theodorets
S. 091 Die Schriften Theodorets wurden in der alten Kirche im allgemeinen hochgeschätzt. Besonders gilt das von seinen exegetischen, apologetischen und kirchenhistorischen Werken. Auch seine dogmatischen Schriften fanden allenthalben eine günstige Aufnahme, soweit sie nicht gegen Cyrill und das Konzil von Ephesus gerichtet waren oder die Väter des Nestorianismus, Diodor von Tarsus, Theodor von Mopsuestia und Nestorius selbst verteidigten. Die zuletzt (in § 4) genannten irrigen Ansichten fanden zu jener Zeit überhaupt keine besondere Beachtung und boten daher auch keinen Anlaß zu feindseliger Bekämpfung. Dagegen verfolgte ihn die neu aufkeimende und immer kühner und gewalttätiger auftretende Sekte der Monophysiten mit steigendem Hasse, nicht nur weil er ein Gegner des Cyrill war, auf den sie sich mit Vorliebe beriefen, sondern auch weil er ihr eigener Gegner war, den sie am meisten fürchteten. Als Theodoret 451 auf dem Konzil von Chalcedon ein orthodoxes Glaubensbekenntnis ablegte und Nestorius verurteilte, verstummten zwar die lauten Angriffe der Anhänger des inzwischen (444) verstorbenen Cyrill und die Klagen der katholischen Kreise, aber um so heftiger kehrte sich der Zorn der Monophysiten gegen Theodoret. Da die letzteren die dogmatischen Beschlüsse des Konzils nicht anerkannten, dauerten die christologischen Streitigkeiten fort und sorgten dafür, daß das Andenken an Theodoret auch nach seinem Tode nicht verloren ging.
Auf einer von Kaiser Anastasius 499 zu Konstantinopel versammelten Synode wurde mit Diodor von Tarsus, Theodor von Mopsuestia, Ibas von Edessa und anderen auch Theodoret von Cyrus mit dem Anathem belegt. Das gleiche Los traf übrigens auch Papst Leo den Großen, dessen dogmatische Epistel an den Patriarchen Flavian und die allgemeine Synode von Chalcedon1. S. 092 Eine größere Bedeutung gewann die Verurteilung der nestorianisierenden Schriften Theodorets im sogenannten Dreikapitelstreit.
Der Erzbischof Theodor Askidas von Cäsarea in Kappadozien, ein Freund und Gönner der Origenisten, suchte den dogmatisierlustigen Kaiser Justinian I. (527—565) von der Verfolgung der Origenisten dadurch abzubringen, daß er ihm einredete, die Akephaler, eine Fraktion der Monophysiten, würden sich leicht mit der Kirche vereinigen, wenn die ihnen besonders anstößigen sogenannten drei Kapitel mit dem Anathem belegt würden. Diese drei Kapitel waren
1) Theodor von Mopsuestia und seine Schriften, 2) der Brief des Priesters und späteren Bischofs Ibas von Edessa an den Perser Maris, Bischof von Hardaschir, und endlich 3) die Schriften des Theodoret von Cyrus, welche für Nestorius und gegen Cyrill und die Synode von Ephesus geschrieben worden waren2.
Der Kaiser ging auf den Vorschlag ein und erließ 544 ein Edikt, das die drei Kapitel und damit auch die genannten Schriften Theodorets mit dem Anathem belegte3. Das kaiserliche Edikt sollte von allen Bischöfen des Reiches unterzeichnet und bestätigt werden. Es wurde aber allenthalben mit großem Unwillen aufgenommen. Man hielt es für pietätlos, Männer, die im Frieden mit der Kirche gestorben waren, hinterher zu exkommunizieren; zudem erblickte man darin einen Angriff auf das Konzil von Chalcedon, das Theodoret und Ibas restituiert hatte. Gleichwohl fügten sich nach und nach fast alle Bischöfe des Morgenlandes dem drängenden Willen des Kaisers4. Das Abendland leistete einstweilen noch Widerstand, aber auch dieser sollte gebrochen werden. Papst Vigilius (537—555) wurde vom Kaiser nach S. 093 Konstantinopel gerufen und hier nach längerem Widerstreben durch Schmeicheleien und Drohungen des Kaisers dazu gebracht, daß er in seinem Judicatum (11. April 548) die drei Kapitel ebenfalls verurteilte5. Die auf Theodoret bezügliche Stelle lautet: Anathematizamus et scripta Theodoreti, quae contra rectam fidem et duodecim sancti Cyrilli capitula scripta sunt6.
Das päpstliche Judicatum rief den heftigsten Widerspruch hervor nicht nur bei den Lateinern, die sich gerade in Konstantinopel aufhielten, sondern auch im ganzen Abendlande. Um die entstandene Aufregung zu beschwichtigen, nahm der Papst um 550 das Judicatum wieder zurück. Papst und Kaiser kamen überein, die Angelegenheit auf einem allgemeinen Konzil zur Entscheidung zu bringen. Allein die Verhandlungen hierüber führten zu keinem Ziel. Der Papst mußte sich vom Kaiser die unwürdigste Behandlung gefallen lassen. Endlich berief Justinian ohne und gegen den Willen des Papstes auf den 5. Mai 553 eine Synode nach Konstantinopel7, eine Synode, die erst später infolge der Annahme durch den Papst und die gesamte Kirche den Charakter einer allgemeinen Synode erhielt. Der Papst lehnte es ab, an der kaiserlichen Synode teilzunehmen, sprach aber seine Ansicht über die drei Kapitel in seinem sogenannten ersten Konstitutum aus (14. Mai 553). Er verurteilte darin nur 60 Sätze aus den Schriften des Theodor von Mopsuestia, verbot aber die Verurteilung der Person des Theodor, und ebenso untersagte er die Verdammung der Schriften des Theodoret und Ibas, da sie auch das Chalcedonense nicht verurteilt habe. Theodoret habe zu Chalcedon den Nestorius und dessen Irrlehre anathematisiert und damit alle nestorianischen Behauptungen, mögen sie von wem immer herrühren, also auch von ihm selbst, mit dem Anathem belegt. Eine S. 094 Verdammung nestorianisierender Sätze Theodorets wäre eine Beleidigung der Synode von Chalcedon8.
Dieses päpstliche Dekret wurde dem Kaiser am 25. Mai zugestellt, von ihm aber nicht angenommen9.
Inzwischen hatte sich die Synode in mehreren Sitzungen mit den drei Kapiteln beschäftigt10. ln der fünften Sitzung (17. Mai 553) wurde eine Reihe von anstößigen Stellen aus den Schriften Theodorets verlesen: sechs Fragmente aus der Polemik Theodorets gegen die zwölf Anathematismen Cyrills, fünf Bruchstücke aus einigen Reden Theodorets und fünf zum Teil ganze Briefe desselben. Die vorgetragenen Stellen waren teils offen häretisch, leugneten die Communicatio idomatum, die hypostatische Union, behaupteten, daß der Gott Logos nicht Fleisch geworden sei, teils enthielten sie Schmähungen gegen Cyrill, der novus haereticus, novus Christi impugnator, magis autem Dei impugnator und ein bösartiger Ägypter genannt wird, dessen geistige Frucht schon bei der Konzeption hätte abgetrieben oder doch gleich nach der Geburt hätte vernichtet werden sollen usw.11.
In der achten und letzten Sitzung des Konzils (2. Juni 553) wurde das Endurteil über die drei Kapitel verkündet. Die Verurteilung der Schriften Theodorets erfolgte in der Synodalsentenz mit folgenden Worten: Condemnamus et anathematizamus . . . quae impie Theodoritus conscripsit contra rectam fidem et contra duodecim capitula sancti Cyrilli et contra Ephesinam primam synodum et quae ad defensionem Theodori et Nestorii ab eo scripta sunt12.
Von den 14 Anathematismen aber, die dem Synodalschreiben angefügt sind, ist der dreizehnte den Schriften Theodorets gewidmet. Derselbe lautet in deutscher Übersetzung folgendermaßen: S. 095
„Wer die gottlosen Schriften Theodorets verteidigt, die gegen den wahren Glauben und gegen die erste und heilige Synode von Ephesus und gegen den heiligen Cyrill und seine zwölf Kapitel gerichtet sind,
und wer alles in Schutz nimmt, was derselbe schrieb für Theodor und Nestorius, diese gottlosen Männer, und für andere, die derselben Gesinnung sind wie die ebengenannten Theodor und Nestorius und die sie und ihre Gottlosigkeit aufnehmen,
und wer um derentwillen die Lehrer der Kirche, welche die hypostatische Vereinigung des Logos glauben und bekennen, gottlos nennt,
und wer nicht anathematisiert die genannten gottlosen Schriften und diejenigen, welche Gleiches dachten und denken und alle, welche gegen den wahren Glauben und gegen den heiligen Cyrill und seine zwölf Kapitel schrieben und in solcher Gottlosigkeit bis an ihr Ende verharrten: der sei Anathema13!”
Der Papst, der die kaiserliche Synode und deren Beschlüsse nicht anerkennen wollte, wurde in die Verbannung geschickt. Um seine Freiheit wieder zu gewinnen, ging er auf die vom Kaiser gestellte Bedingung ein und sprach zuerst in einem Schreiben an den Patriarchen Eutychius von Konstantinopel vom 8. Dezember 553 und hierauf in einem wahrscheinlich an die Bischöfe des Abendlandes gerichteten zweiten Konstitutum vom 23. Februar 554 seine Verurteilung der drei Kapitel aus. In den beiden Aktenstücken lautet die auf Theodoret bezügliche entscheidende Stelle genau so wie im Synodalschreiben des kaiserlichen Konzils: Condemnamus et anathematizamus . . . . quae impie Theodoritus conscripsit contra rectam fidem et contra duodecim capitula sancti Cyrilli et contra Ephesinam primam synodum et quae ad defensionem Theodori et Nestorii ab eo scripta sunt14.
S. 096 Das Konzil wie der Papst haben also nicht sämtliche Werke Theodorets verurteilt, sondern nur die erwähnten nestorianisierenden Streitschriften desselben.
Das gleiche wie Vigilius hat auch sein Nachfolger Papst Pelagius II. (578—590) in einem Brief an den Erzbischof Elias von Aquileja und die übrigen Bischöfe lllyriens ausgesprochen und hinzugefügt, daß Theodoret diese seine Schriften indirekt selbst verurteilt habe, als er auf der Synode von Chalcedon (451) ein orthodoxes Glaubensbekenntnis abgelegt habe. „Nur seine häretischen Schriften verwerfen wir, seine übrigen Schriften dagegen nehmen wir nicht nur an, sondern benutzen sie sogar für den Kampf mit unseren Gegnern15.”
Diese anderen Schriften Theodorets haben sich denn auch glücklicherweise zum größten Teil bis auf unsere Tage erhalten und werden noch immer geschätzt und gegebenenfalls auch gerne benützt.
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Hefele CG II² 625. ↩
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Liberatus in seinem Breviarium causae Nestorianorum et Eutychianorum c. 24; bei Ml 68, 969—1052. Hefele II² 799. ↩
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Hefele II² 800 ff. ↩
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Ebd. S. 812 ff. ↩
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Judicatum ist das Urteil, das sich der Papst auf Grund der Konferenzen mit den Hofbischöfen gebildet hatte. ↩
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Hefele a. a. O. 821. Harduin III 57. ↩
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Hefele 826—54. ↩
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Das Constitutum Vigilii papae bei Harduin III 10—48. Vgl. Hefele 880—86. ↩
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Hefele a. a. O. 887 f. ↩
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Die Verhandlungen der Synode bei Harduin III 51—218. Hefele 854—902. ↩
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Harduin III 134—39. Hefele II² 875 f. ↩
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Harduin III 194. Hefele II ² 891. ↩
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Harduin III 199 sq. Hefele II² 901. ↩
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Harduin III, 215 C u. 243 B. Hefele a. a. O. 907 f. 910 f. ↩
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„Neque enim Theodoreti omnia scripta damnamus, sed sola quae contra rectam fidem aliquando scripsisse monstratur, quae tamen et ipse damnasse cognoscitur, qui in s. Chalcedonensi synodo vera confessus invenitur . . . . Sola ejus haeretica scripta respuentes alia scripta illius non solum recipimus sed eis etiam contra adversarios utimur.” Mansi IX 450—52. ↩