102.
1. Weiter heißt es: ‚Meine Hoffnung von den Brüsten meiner Mutter an! Auf Dich bin ich gewiesen vom Mutterschoße an; vom Leibe meiner Mutter an mein Gott bist Du, weiche nicht von mir! Die Trübsal ist nahe, und keiner ist, der mir hilft. Umrungen haben mich viele Kälber, fette Stiere mich umlagert. Wider mich rissen sie den Mund auf wie ein Löwe, der raubt und brüllt. Wie Wasser ist hingegossen und zerdehnt ist all mein Gebein; geworden ist mein Herz wie Wachs, zerfließend im Innern meines Leibes. Ausgetrocknet ist wie eine Scherbe meine Kraft, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen.’ Was in der Tat geschehen ist, wurde hiermit vorherverkündet. 2. Es heißt: ‚Meine Hoffnung von den Brüsten meiner Mutter an.’ Kaum nämlich war Jesus in Bethlehem geboren, da wollte wie ich oben sagte1 der König Herodes, der von Magiern aus Arabien über ihn erfahren hatte, ihn töten lassen; Joseph aber nahm ihn gemäß dem Auftrage Gottes zugleich mit Maria und zog fort nach Ägypten. Der Vater hatte nämlich bestimmt, daß er, den er erzeugt hatte, dem Tode überantwortet werde, erst nachdem dieser als Mensch des Vaters Lehre S. 166 verkündet hatte. 3. Wenn aber jemand uns sagen würde: ‚Hätte denn Gott nicht vielmehr den Herodes töten können?’, dem begegne ich mit der Antwort: ‚Hätte denn Gott nicht am Anfang die Schlange aus dem Wege räumen können, um sich das Wort2 zu ersparen: Ich will Feindschaft setzen zwischen ihr und dem Weibe, zwischen ihrer Nachkommenschaft und seiner Nachkommenschaft? Hätte er denn nicht sofort eine Menge von Menschen erschaffen können?’ 4. Da er es jedoch so für gut hielt, stattete er Engel und Menschen mit freiem Willen aus, damit sie gerecht handelten, und bis zu einer von ihm bestimmten Zeit sah er, daß der freie Wille für sie gut war. Und wiederum weil er es für gut erachtete, hielt er allgemeine und besondere Gerichte ab, aber den freien Willen ließ er. Daher sagt der Logos beim Turmbau von Babylon und bei der Sprachenvermehrung und Sprachenveränderung3 : ‚Und der Herr sprach: Sieh, ein Volk ist es, und eine Sprache haben sie alle, und solches haben sie begonnen zu tun; und jetzt werden sie nicht von all dem lassen, was sie unternehmen.’
5. Eine Prophezeiung auf das, was Christus gemäß dem Willen seines Vaters tat, waren auch die Worte: ‚Ausgetrocknet ist wie eine Scherbe meine Kraft, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen.’ Denn die Kraft seines gewaltigen Wortes, durch welche er stets die mit ihm disputierenden Pharisäer und Schriftgelehrten und überhaupt die Lehrer eures Volkes zurechtwies, wurde eingedämmt gleich einer wasserreichen, gewaltigen Quelle, deren Wasser abgeleitet wurde: vor Pilatus schwieg er, und keinem wollte er mehr, wie in den Denkwürdigkeiten seiner Apostel geoffenbart ist4, eine Antwort geben, auf daß auch in Erfüllung gehe das Wort des Isaias5 : ‚Der Herr gibt mir die Sprache, damit ich weiß, wann ich reden soll’.
6. Wenn er aber ferner sagte: ‚Mein Gott bist Du, weiche nicht von mir!’, so lehrt er zugleich, daß alle S. 167 auf Gott, den Weltschöpfer, hoffen und bei ihm allein Heil und Hilfe suchen sollen, daß sie jedoch nicht wie sonst die Menschen meinen dürfen, Abstammung, Reichtum, Kraft oder Weisheit vermöchten das Heil zu geben. Das war immer die Lebensauffassung von euch, die ihr seinerzeit das (goldene) Kalb gemacht habt, stets zeigtet, daß ihr keine Dankbarkeit kennt, die Gerechten ermordet, wegen eurer Abstammung aufgeblasen seid. 7. Wenn nämlich der Sohn Gottes, wie er deutlich erklärt, nicht als Sohn, noch wegen seiner Macht, noch wegen seiner Weisheit gerettet werden kann, sondern wegen seiner Sündelosigkeit gemäß dem Worte des Isaias6, er habe nicht einmal im Worte gesündigt, ‚denn keine Sünde und keinen Trug beging er mit dem Munde’, wenn er nach seiner deutlichen Erklärung ohne Gott nicht gerettet werden kann, haltet ihr es denn dann nicht für Selbsttäuschung, wenn ihr oder auch die anderen das Heil ohne diese Hoffnung (auf Gott) erwartet?