103.
1. Die weiteren Worte des Psalmes: ‚Die Trübsal ist nahe, und keiner ist, der mir hilft. Umrungen haben mich viele Kälber, fette Stiere mich umlagert. Wider mich rissen sie ihren Mund auf wie ein Löwe, der raubt und brüllt. Wie Wasser ist hingegossen und zerdehnt ist all mein Gebein’, waren eine Prophezeiung auf seine Erlebnisse. Dieselben entsprachen der Prophezeiung. Denn in jener Nacht, als Leute aus eurem Volke von den Pharisäern, Schriftgelehrten und Lehrern abgesandt wurden, um an Jesus auf dem Ölberge Hand anzulegen1, da haben sie ihn umrungen. Diese nannte der Logos stößige und frühzeitig gefährliche Kälber2. 2. Wenn beigefügt ist: ‚fette Stiere haben mich umlagert’ wurde prophetisch auf die hingewiesen, welche damals, als Jesus vor eure Lehrer geführt wurde, ebenfalls wie die Kälber gehandelt haben. Stiere nannte der Logos diese3, deshalb, weil, wie wir S. 168 wissen, die Kälber von den Stieren stammen. Wie nun die Kälber durch die Stiere das Leben haben, so waren eure Lehrer schuld daran, daß ihre Kinder auf den Ölberg gingen, dort Jesus ergriffen und ihn vor dieselben führten.
Auch das Wort ‚keiner ist, der hilft’ ist wiederum eine Offenbarung dessen, was geschehen ist, Denn, obwohl er sündelos war, hatte er von keinem einzigen Menschen Hilfe4.
3. Wenn es heißt: ‚wider mich rissen sie ihren Mund auf wie ein Löwe, der brüllt’, so ist der damalige König der Juden gekennzeichnet, der auch den Namen Herodes5 hatte und jenem Herodes nachfolgte, welcher bei der Geburt Christi alle damals zu Bethlehem geborenen Knaben töten ließ in der Meinung, daß unter ihnen sicher auch der sei, von welchem zu ihm die Magier aus Arabien gesprochen hatten; denn er kannte nicht den Plan dessen, der stärker ist als alle, nicht dessen Befehl an Joseph und Maria, sie sollen mit dem Kinde nach Ägypten fortziehen und dort bleiben, bis sie in einer neuen Offenbarung die Weisung erhalten, in ihr Land zurückzukehren. Dorthin gingen sie auch und blieben daselbst, bis Herodes, der Mörder der Kinder zu Bethlehem, starb und Archelaos ihm nachfolgte6. Der letztere starb aber, noch ehe Christus dem Willen des Vaters entsprechend den von diesem bereiteten Heilsweg ging und gekreuzigt wurde. 4. Herodes folgte dem Archelaos nach und übernahm die Herrschaft, welche ihm zugewiesen war. Zu ihm sandte Pilatus, um ihm einen Gefallen zu erweisen, den gefesselten Jesus7, was Gott vorherwußte und verkündet hatte mit den Worten8 : ‚Sie fesselten ihn und brachten ihn in das Haus des Assyrers als Geschenk für den König.’
S. 169 5. Oder es bezeichnete der Logos als ‚Löwen, der wider ihn brüllt’, den Teufel, der von Moses Schlange9 genannt wird, bei Job10 und Zacharias11 Teufel heißt und von Jesus Satanas12 angeredet worden ist13, ein zusammengesetztes Wort, mit welchem der Teufel, wie Jesus zu erkennen gibt, wegen seines Verhaltens benannt wurde; denn Sata14 heißt in der Sprache der Juden und Syrer ein Abtrünniger, und das Wort Nas wird mit Schlange15 übersetzt, und aus diesen beiden Worten ist das eine Wort Satanas gebildet16. 6. Denn gleich nachdem Jesus aus dem Flusse Jordan gestiegen war und die Stimme zu ihm gesprochen hatte: ‚Mein Sohn bist du, heute habe ich dich erzeugt’17, trat, wie in den Denkwürdigkeiten der Apostel geschrieben ist, dieser Teufel zu ihm, versuchte ihn und sprach schließlich zu ihm: ‚Bete mich an!’ worauf Christus ihm antwortete: ‚Weiche von mir, Satanas! Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten und ihm allein dienen!’18. Wie er nämlich Adam betrogen hatte, so meinte er auch mit Jesus verfahren zu können.
7. Die Worte: ‚Wie Wasser ist hingegossen und zerdehnt ist all mein Gebein. Geworden ist mein Herz wie Wachs, zerfließend im Innern meines Leibes’ waren eine Prophezeiung auf das, was Jesus in jener Nacht erfahren mußte, als man gegen ihn auf den Ölberg ausrückte, um ihn gefangenzunehmen. 8. Denn in den Denkwürdigkeiten, deren Verfasser nach meiner Behauptung die Apostel Jesu und deren Nachfolger waren, steht geschrieben, daß Schweiß wie Blutstropfen zur S. 170 Erde rann19, da er betete und sprach20 : ‚Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch vorüber’ und da sein Herz und ebenso seine Gebeine offenbar bebten und sein Herz wie Wachs in seinem Innern zerfloß, auf daß wir erkennen, daß nach dem Willen des Vaters sein Sohn unsertwegen in der Tat21 solches erduldet hat, und wir nicht behaupten, er habe als Sohn Gottes kein Empfinden gehabt für das, was ihm geschah und begegnete.
9. Mit den Worten: ‚Ausgetrocknet ist wie eine Scherbe meine Kraft, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen’ war, wie gesagt22, prophetisch auf sein Schweigen hingewiesen; denn er, der allen euren Lehrern Torheit vorwirft, gibt in keinem Punkte irgendwelche Antwort.
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Vgl. Matth. 26, 47; Mark. 14, 43. ↩
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Vgl. Exod. 21, 29. ↩
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= die Lehrer, welche Jesum vor Gericht umgeben haben. ↩
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Vgl. Matth. 26, 56; Mark. 14, 50. ↩
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= der Tetrarch Herodes Antipas, der Sohn Herodes des Großen. Wie andere Kirchenväter verrät Justin in der Geschichte der hier erwähnten jüdischen Herrscher keine genauen Kenntnisse. ↩
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Vgl. Matth. 2, 1-23. ↩
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Vgl. Luk. 23, 7 f. ↩
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Os. 10, 6; vgl. Irenäus, Apostol. Verkündig. 77; Tertullian, Gegen Marc. 4,42.. ↩
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Gen. 3, 1 f. ↩
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1, 2. ↩
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3, 1 f. ↩
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gräzisierte Form von שָׂטָן ↩
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Vgl. u. a. Matth. 4, 10. ↩
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= שָׂטָה ↩
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= נָחָשׂ ↩
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Zur Erklärung von Satanas vgl. Irenäus, Gegen die Häresien V. 21,2; Apostol. Verkündig. 16. ↩
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Vgl. Luk. 3, 22 ↩
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Vgl. Matth. 4, 9 f.; Luk. 4, 7 f. ↩
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Vgl. Luk. 22, 44. ↩
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Matth. 26, 39; Luk. 22, 42. ↩
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Justin wendet sich gegen jene gnostische Richtung, welche lehrte, Christus habe nur zum Schein gelitten. ↩
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102, 5. ↩