4.
S. 7 1.,Gibt es also’, fragt er, ‚in unserer Vernunft eine Kraft von dieser Art und Größe? Oder erfaßt sie nicht etwa unter Zuhilfenahme der Sinne das Sein? Oder wird des Menschen Vernunft Gott einmal schauen, ohne mit heiligem Geiste ausgerüstet zu sein?‘ Ich antwortete: ‚Plato1 behauptet nämlich, das Auge der Vernunft habe eben diese Eigenschaft und sie sei uns dazu gegeben, daß wir schon mit ihrem Lichte jenes Sein selbst schauen können, welches die Ursache für alles Erkennbare ist, keine Farbe, keine Gestalt, keine Größe, überhaupt nichts hat, was ein Auge sieht, welches vielmehr nach Platos Erklärung2 über jedes Wesen erhaben ist, nicht ausgesprochen und nicht genannt werden kann, sondern nur schön und gut ist, und welches den guten Seelen wegen ihrer Verwandtschaft und, weil sie das Verlangen haben, es zu schauen, unmittelbar eingegeben wird.’
2. Er fragte: ‚Worin besteht nun unsere Verwandtschaft mit Gott? Oder ist auch die Seele göttlich und unsterblich und ist sie ein Teil eben jener souveränen Vernunft? Da aber diese Gott schaut, so muß es auch uns möglich sein, mit unserer Vernunft das Göttliche zu erfassen und also bereits selig zu sein?‘ ‚Ganz gewiß‘, erwiderte ich. Er fragte: ‚Erfassen aber alle Seelen in allen Lebewesen dasselbe? Oder ist da ein Unterschied zwischen der Seele des Menschen und der des Pferdes und Esels?’ ‚Nein‘, antwortete ich, ‚in allen sind dieselben Seelen.‘
3. ‚Also werden auch Pferde und Esel Gott sehen, oder haben sie ihn einmal gesehen?‘ Ich entgegnete: ‚Nein, denn auch für viele Menschen gibt es kein Schauen Gottes, sondern nur für den, welcher sich durch Gerechtigkeit und jede andere Tugend reinigt und recht lebt.’ ‚Demnach‘, versetzte er, ‚sieht er Gott nicht deshalb, weil er mit ihm verwandt ist, auch nicht wegen S. 8 seiner Vernunft, sondern weil er tugendhaft und gerecht ist?‘ ‚Gewiß! und weil er das hat, womit er Gott erkennt.‘ ‚Tun Ziegen oder Schafe jemandem Unrecht?’ ‚Keineswegs‘, war meine Antwort.
4. ‚Also’, fährt er weiter, ‚werden auch diese Lebewesen nach deinem Worte an der Anschauung teilhaben? ,Nein. Ihr Körper ist nämlich von der Beschaffenheit, daß er dafür ein Hindernis bildet.‘ Jener wandte ein: ‚Wenn diese Lebewesen Sprache erhalten würden, dann wisse wohl, daß sie mit noch viel größerer Beredsamkeit über unseren Körper schimpfen würden. Doch lassen wir das nun! Du sollst mit deinen Worten recht haben. Das aber sage mir: Schaut die Seele Gott, solange sie noch im Körper weilt, oder erst, wenn sie von ihm befreit ist?‘
5. Ich gebe ihm zur Antwort: ‚Solange sie in menschlicher Gestalt lebt, ist es ihr durch die Vernunft möglich, dazu zu gelangen. Vor allem aber wird sie dann, wenn sie vom Körper befreit ist und für sich allein besteht, dessen vollends teilhaft, wonach sie sich die ganze Zeit sehnte.’ ‚Wenn sie in den Menschen zurückkehrt, erinnert sie sich dann auch noch an Gott?’ ‚Ich glaube nicht‘, sagte ich. ‚Was für einen Nutzen haben nun die Seelen, welche Gott gesehen haben? Oder was hat der, welcher ihn gesehen hat, vor dem, der ihn nicht gesehen hat, voraus, wenn er sich nicht einmal daran erinnert, ihn gesehen zu haben?’
6. ‚Ich weiß keine Antwort‘, entgegnete ich, ‚Was aber haben die Seelen zu erwarten, welche dieses Schauens nicht würdig gehalten werden?‘ fragte er. ‚Sie werden in Tierkörper eingekerkert, und das ist ihre Strafe.‘ ‚Sie wissen also, daß sie aus genanntem Grunde in solchen Körpern sind, und daß sie gefehlt haben?‘ ‚Ich glaube nicht.’
7. ‚Wie es scheint, haben diese Seelen also auch S. 9 gar keinen Nutzen von der Strafe. Doch ich möchte sagen, sie werden nicht einmal bestraft, wenn sie die Strafe nicht erfassen.‘ ‚Nein.‘ ‚Also sehen die Seelen Gott nicht und wandern auch nicht in fremde Körper3 ; denn sonst wüßten sie, daß sie damit bestraft werden, und würden sich scheuen, in Zukunft auch nur zufällig sich zu verfehlen. Aber das gebe auch ich zu, daß die Seelen erkennen können, daß ein Gott ist, und daß Gerechtigkeit und Frömmigkeit Güter sind.‘ ‚Du hast recht‘, war meine Antwort.
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