13.
(1) Nicht unsterblich, ihr Bekenner des Griechentums, ist unsere „Seele“ an sich, sondern sterblich: sie kann aber trotzdem dem Tode entrinnen. Denn sie stirbt und erfährt zusammen mit dem Körper ihre Auflösung, S. 215 wenn sie die Wahrheit nicht erkannt hat; später, am Ende des Weltlaufs, steht sie freilich mit dem Körper auf, aber nur, um als Strafe den Tod in der Unsterblichkeit1 zu empfangen: dagegen stirbt sie überhaupt nicht2, mag auch ihre zeitweilige Auflösung erfolgen, wenn sie mit der Erkenntnis Gottes ausgerüstet ist. (2) An und für sich ist sie Finsternis und kein Licht ist in ihr und hierauf eben bezieht sich das Wort: „Die Finsternis fasset nicht das Licht“3. (3) Denn nicht die Seele ist es, die den Geist rettet, sondern sie wird von ihm gerettet und „das Licht fasset4 die Finsternis“, wobei der Logos als das von Gott ausgehende „Licht“, als „Finsternis“ aber die unkundige Seele zu verstehen ist. (4) Wenn sie daher allein für sich lebt, so neigt sie sich niederwärts zur Materie und stirbt zugleich mit dem Fleische; hat sie aber Gemeinschaft mit dem göttlichen Geiste5, so ist sie nicht hilflos, sondern steigt hinauf in jene Lande, zu denen sie der Geist führt: denn seine Wohnung ist in der Höhe, ihr Ursprung dagegen in der Tiefe. (5) Im Anfang also wohnte der Geist mit der Seele zusammen; der Geist aber hat sie verlassen, als sie ihm nicht folgen wollte. Doch da sie gleichsam einen Funken seiner Kraft behielt und nur infolge der Scheidung das S. 216 Vollkommene nicht erschauen konnte, suchte sie Gott in der Irre und bildete sich viele Götter, indem sie den streitsüchtigen Dämonen folgte. (6) Der Geist Gottes ist nun nicht mehr bei allen Menschen; bei einigen aber, deren Wandel gerecht war, ist er eingekehrt und vermählte sich mit ihrer Seele, um durch Weissagungen den übrigen Seelen das Verborgene kundzutun: und die Seelen, die der Weisheit folgten, zogen den verwandten Geist an sich, die aber nicht folgten und den Boten des Gottes, der gelitten hat, verschmähten, die zeigten sich mehr als Gottesfeinde, denn als Gottesdiener.
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D. i. den ewigen Sündentod. ↩
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*Unrichtige Deutung bei Puech, Recherches S. 70 f. Wie der Vergleich mit Kap. VI 4 zeigt, unterscheidet Tatian mit aller Schärfe die Begriffe λύεσθαι und θνῄσκειν: beide Arten von Seelen, sagt er, sowohl die sündige als auch die tugendhafte, erfahren mit dem leiblichen Tode ihres jeweiligen Trägers die „Auflösung“ λύονται, aber nur die sündige Seele „stirbt“ (θνῄσκει), die tugendhafte „stirbt überhaupt nicht.“ Also muß nach Tatians Lehre einerseits zwischen „Auflösung“ und „Tod“ unterschieden und kann andererseits bei θνῄσκειν nicht an „wirklichen“, sondern nur an Südentod gedacht werden (vgl. unten zu Kap. XVI 3 f.); denn die „Potenz“ der Seele, der tugendhaften wie der sündigen, besteht ja fort auch nach der „Auflösung“ (Kap. VI 4). ↩
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Joh. 1,5. ↩
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ἔσωσεν, ἐσώθη, κατέλαβεν sind sog. gnomische Aoriste. ↩
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Der Ausdruck συζυγία τοῦ θείου πνεύματος verrät gnostischen Einfluß wie überhaupt alles, was Tatian von der Seele lehrt (vgl. zu Kap. XX 2 und 4, s. auch Geffcken ZgrA. S. 105 f.). ↩