2. Gott kann nur mit den Augen des Geistes geschaut werden.
Wenn du aber sagst: „Zeige mir deinen Gott!“ so möchte ich dir antworten: „Zeige mir den Menschen in dir, und ich will dir meinen Gott zeigen!“ Zeige mir S. 13 also, daß die Augen deiner Seele sehen und die Ohren deines Herzens hören! Denn gleichwie die mit ihren leiblichen Augen Sehenden die Vorgänge im Erdenleben wahrnehmen und zugleich die verschiedenen Erscheinungen unterscheiden, ob Licht oder Finsternis, ob etwas weiß oder schwarz, mißgestaltet oder wohlgestaltet, harmonisch und ebenmäßig, oder unharmonisch und ohne Ebenmaß, oder über das Maß hinaus oder einseitig ist; (wie man auch in gleicher Weise unterscheiden kann) die Dinge, die unter das Gehör fallen, ob nämlich ein Ton hoch oder tief oder angenehm sei: so verhält es sich auch mit den Ohren des Herzens und den Augen des Geistes, wenn es sich um die Möglichkeit handelt, Gott zu schauen. Gott wird nämlich von denen gesehen, die imstande sind, ihn zu sehen, wenn sie nämlich die Augen ihres Geistes offen halten. Denn es haben zwar alle ihre Augen, aber bei einigen sind sie getrübt, und sie sehen das Licht der Sonne nicht. Und wenn die Blinden nicht sehen, so folgt daraus gewiß nicht, daß auch die Sonne nicht scheint, sondern die Blinden müssen sich und ihren Augen die Schuld zuschreiben. So hast auch du, o Mensch, infolge deiner Sünden und schlechten Handlungen getrübte Augen. Wie ein blanker Metallspiegel, so rein sei die Seele des Menschen. Wenn nun Rost auf dem Metallspiegel liegt, so kann man das Antlitz des Menschen im Spiegel nicht sehen; so kann auch, wenn die Sünde im Menschen ist, ein solcher Mensch Gott nicht sehen. Zeige also dich selbst, ob du kein Ehebrecher, kein Dirnenjäger, kein Dieb, kein Räuber, kein Wegelagerer, kein Knabenschänder, kein Mann der Gewalttat, ob du nicht schmähsüchtig, zornmütig, neidisch, prahlerisch, argwöhnisch, ein Raufbold, ein Geizhals, ungehorsam gegen die Eltern, ein Verkäufer deiner Kinder bist. Solchen, die derlei Dinge tun, erscheint Gott nicht, wenn sie sich nicht zuvor von allem Schmutze reinigen. Alles (dieses) also verdunkelt dich auch, wie das Eindringen eines Splitters ins Auge, so daß dieses das Licht der Sonne nicht schauen kann. So umgibt auch dich, o Mensch, mit Finsternis die Abkehr von Gott, so daß du Gott nicht sehen kannst.