2.
Wer demnach eine freie Selbstbestimmung leugnen will, wird sich zu einer sehr törichten Annahme gezwungen sehen: erstens, dass wir keine vernünftigen Wesen sind, zweitens, dass wir nicht einmal lebende Wesen sind1, sondern dass wir, so könnte man sagen, wie wenn (uns) jemand2 von außen her in Bewegung setzte, ohne uns selbst irgendwie zu bewegen, infolge jener (Einwirkung) von außen das täten, was wir nach (allgemeiner) Annahme tun. Insbesondere sollte jemand auf seinen eigenen Seelenzustand achten und zusehen, ob solche Äußerungen: „er wollte nicht selbst, er esse nicht selbst, er gehe nicht selbst spazieren, er stimme nicht selbst zu oder3 nehme irgend welche Lehrsätze (als richtig) an, er mißbillige auch nicht selbst andere als unwahr“ - ob solche Äußerungen nicht unverschämt sein würden. Wie nun ein Mensch gewissen Lehrsätzen unmöglich zustimmen4 kann, wenn sie auch [jemand]5 mit Hilfe von erfundenen Beweisen und einschmeichelnden S. 28 Gründen unzähligemal aufstellt, so ist es ausgeschlossen, dass man in Betreff der menschlichen Handlungen der Ansicht beipflichten könnte, dass der freie Wille keineswegs gesichert sei. Wer ist denn davon durchdrungen, dass nichts geistig erfaßt werden könne, oder lebt so, dass er über alles, was es auch sein möge, sein Urteil zurückhält? Wer schilt nicht den Diener, wenn er wahrzunehmen glaubt, dass dieser gefehlt hat? Und wo ist ein Mann, der seinem Sohn keine Vorwürfe macht, wenn dieser seinen Eltern die gebührende Ehre versagt, oder der für die schändliche Tat einer Ehebrecherin nicht schärfsten Tadel hat? Die Wahrheit zwingt und drängt ja dazu, dass wir uns, wenn jemand auch unzähligemal Gegengründe erfindet, doch zum Loben und zum Tadeln anschicken, in der Überzeugung, dass der freie Wille gewahrt bleibt und dieser bei uns zum „Lobredner oder Tadler6“ wird.
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Ich folge der Umstellung von Bentley Or. II 312, 12f. λογικὰ - ζῷα, statt: ζῷα - λογικὰ. ↩
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Ich lese Or. II 312. 13 jetzt so: ἀλλ’ οἷον τινος ἔξωθεν κινοῦντος . ↩
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Or. II 312,17 ist besser ἢ παραδέχεσθαι (statt καὶ παραδέχεσθαι) zu schreiben. ↩
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Zu dieser Bedeutung von διατίθεσθαι πρός τι vgl. z.B. Orig. c. Cels. I 26 (Or. I 78,4). ↩
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Or. II 312,19 nach meiner Vermutung: κἂν μυριάκις ⟨τις⟩ κτλ, vgl. ebd. Z. 28. ↩
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Or. II 312,29 l. ἐπαινετοῦ ἢ ψεκτοῦ γιν. nach Plato, Leg. I p. 639 C. ↩