2.
„Die Erde sprosse das Grün des Grases, Samen treibend”, sagt er, „nach seiner Art.” Wenn also eine Grasart auch nur Tieren nützlich ist, so kommt doch der Nutzen, den diese davon haben, auch uns zugute, und uns ist der Nießbrauch der Samen vorbehalten, so daß der Sinn der Worte der ist: „Es sprosse die Erde das Grün des Grases und Samen, treibend nach seiner Art1.” Auf diese Weise läßt sich ja auch die richtige Abfolge der Worte herstellen - denn hier scheint S. 74 die Zusammenstellung nicht die richtige zu sein -, und wird der notwendige Verlauf im Naturgeschehen gewahrt bleiben. Denn das erste ist das Sprossen, dann das junge Grün, dann das Wachstum des Grasest dann der Abschluß des Wachstums im Samen.
Aber wie, fragen sie, kann die Schrift beweisen, daß alle Organismen der Erde Samen tragen, wo doch augenscheinlich weder der Schilf noch das Futterkraut noch das Minzkraut, weder Saffran noch Knoblauch noch Binse noch sonst viele andere Pflanzenarten einen Samen hervorbringen? Darauf antworten wir, daß viele Gewächse der Erde in den unteren Teilen, in der Wurzel ihre Samenkraft haben. So z. B. treibt der Schilf nach einjährigem Wachstum aus der Wurzel einen Auswuchs, der den neuen Samen enthält. Das tun noch unzählige andere Gewächse auf der Erde, die alle in den Wurzeln die Fortpflanzungskraft enthalten. Deshalb steht es außer allem Zweifel, daß in jeder Pflanze entweder Same oder Samenkraft verborgen liegt. Und das ist der Sinn des Ausdruckes: „Nach ihrer Art.” Denn der Schößling des Schilfrohrs bringt keinen Ölbaum hervor, vielmehr entsteht aus einem Schilfrohr wieder ein anderes Schilfrohr, und aus den Samen sprossen nur mit dem Gesäten verwandte Pflanzen hervor. Und so ist das, was bei der Urschöpfung der Erde entsprossen, bis heute erhalten, da bei der Folge der Zeugungen die Art ungetrübt dieselbe bleibt.
„Es sprosse die Erde.” Bedenke, wie auf diesen kurzen Ruf und den knappen Befehl hin die erkaltete und unfruchtbare Erde sogleich zu kreißen und zu gebären anfing, wie sie gleichsam ihr Trauer- und Klagegewand ablegte, dafür das Freudengewand anlegte und frohlockend über ihren eigenen Schmuck unzählige Pflanzen hervorbrachte.
Ich wollte, du ließest das Wunder der Schöpfung stärker auf dich wirken, damit du immer, wo du gehst und vor einer Pflanzenart stehst, eine lebhafte Erinnerung an den Schöpfer bekommst. Vor allem denke, wenn du das Grün des Grases und eine Blume siehst, an die menschliche Natur, und erinnere dich an das Bild des weisen Isaias, daß „alles Fleisch wie Gras ist S. 75 und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blume”2! Die Kurzfristigkeit des Lebens, die flüchtige Wonne und Heiterkeit des menschlichen Glückes hat hier beim Propheten das treffendste Bild gefunden. Heute körperlich gesund und wohlgenährt, strotzend in der gesunden Farbe seiner Jugendblüte, munter und heiter, kraftvoll, ohne seinesgleichen zu finden - morgen ist derselbe elend, vom Alter geschwächt oder durch Krankheit entkräftet. Da steht einer in Ansehen wegen der Größe seines Reichtums; es umgibt ihn eine Menge Schmeichler, es begleiten ihn vermeintliche Freunde, die nach seiner Gunst haschen, es umlagert ihn ein Haufe von gleich heuchlerischen Verwandten und zahllosen Schmarotzern - teils des Essens, teils anderer Bedürfnisse wegen -, die er beim Aus- und Heimgehen hinter sich herschleppt und dadurch den Neid aller, die ihm begegnen, weckt. Füge noch zum Reichtum politische Bedeutung oder auch Ehrenstellen aus der Hand von Regenten, eine Minister- oder Feldherrnwürde, den Herold, der mit lauter Stimme vor ihm her ruft, die Liktoren, die überall den Untertanen schwere Furcht einjagen, mit Schlägen, Güterkonfiskation, mit Verbannung und Fesseln drohen, woraus sich für die Untergebenen eine unerträgliche Furcht anhäuft! - und was dann? Eine einzige Nacht, ein Fieber, eine Brustfell- oder Lungenentzündung rafft plötzlich diesen Menschen von den Menschen hinweg, macht jäh der Rolle, die er spielte, ein Ende3, und jene Herrlichkeit verschwindet wie ein leerer Traum. Deshalb hat der Prophet die menschliche Herrlichkeit mit der so rasch welken und hinfälligen Blume verglichen.
