10.
Mit eigenen Augen schauen wir ein schreckliches, erbarmungswürdiges Schauspiel, das nur der glaubt, der es selbst gesehen hat. Da sind Tote und Lebende, an den meisten Gliedern in einer Weise verstümmelt, daß man kaum erkennt, wer sie einmal waren oder woher sie stammen. Es sind eigentlich nur noch elende Überreste gewesener Menschen. Um erkannt zu werden, müssen sie Vater, Mutter, Geschwister, Heimat angeben und erklären: „So und so heißt mein Vater und meine Mutter, und dies ist mein eigener Name und du warst einst mein Freund und mein Verwandter.“ So sprechen sie, da sie ja nichts Charakteristisches mehr an sich haben. Sie sind verunstaltete Menschen, die ihres Vermögens, ihrer Verwandten, ihrer Freunde, selbst ihres Körpers beraubt sind. Es sind die einzigen Menschen, welche sich bemitleiden und zugleich hassen. Sie wissen nicht, sollen sie diejenigen Körperteile mehr beklagen, die sie nicht mehr haben, oder diejenigen, welche ihnen noch geblieben sind, diejenigen, welche die Krankheit bereits aufgezehrt hat, oder diejenigen, welche für die Krankheit noch übrig geblieben sind. Die einen Glieder sind unter großen Schmerzen verzehrt worden; die anderen bleiben noch größeren Martern erhalten. Die einen sind dahingeschwunden, ehe sie das Grab schauen; die anderen wird niemand bestatten. Mag einer noch so gut und barmherzig sein, für diese Krankheit hat er absolut kein Herz; ihnen gegenüber allein haben wir vergessen, daß wir Fleisch sind und daß wir von einem erbärmlichen Körper umgeben sind. Wir sind so weit entfernt, unsere (aussätzigen) Verwandten zu pflegen, daß wir vielmehr glauben, wir seien in Sicherheit, wenn wir vor ihnen fliehen. Während man zu einem schon älteren Leichnam, der vielleicht bereits riecht, hingeht und den stinkenden Kadaver vernunftloser Tiere erträgt und es sich gefallen läßt, ganz beschmutzt zu S. 281 werden, fliehen wir schleunigst in aller Herzlosigkeit vor den Aussätzigen, fast unwillig darüber, daß wir die gleiche Luft wie sie einatmen.
