II
Nun wollen wir an der Hand der einzelnen Worte die göttliche Unterweisung genauer kennenlernen! ― „Ὅταν προσεύχησθε“ [Hotan proseuchēsthe] = „wenn ihr betet“, heißt es (Matth. 6, 7): Der Herr hat also nicht gesagt: „ὅταν εὔχησθε“ [hotan euchēsthe] = wenn ihr gelobet“, sondern: „ὅταν προσεύχησθε“ [hotan proseuchēsthe] = „wenn ihr betet“, weil es nach seiner Lehre geziemend ist, daß das Gelöbnis vorher schon erfüllt sei, ehe man sich im Gebete Gott naht. Welches ist der Unterschied dieser Ausdrücke gemäß ihrer Bedeutung? Εὐχή [Euchē] (Gelöbnis) ist das Versprechen einer Sache, die aus Frömmigkeit Gott geweiht wird; προσευχή [proseuchē] (Gebet) hingegen ist das Verlangen nach Gütern, das mit demütigem Flehen verbunden, Gott dargebracht wird. Weil wir denn, wenn wir zu Gott hintreten, um unsere Bitten um unser Heil zu stellen, zuversichtlich reden sollen, so werden wir notwendig zuvor unser Gelübde einlösen, damit wir dann nach Erfüllung unserer Leistung getrost um Gottes Gegengabe bitten können. Darum sagt auch der Prophet: „Meine Gelübde will ich dir entrichten, o Herr, die meine Lippen gesprochen“ (Ps. 65, 15 [auch: V. 13.14] [hebr. Ps. 66, 13.14]), und abermals: „Gelobet und entrichtet das Gelobte dem Herrn, unserem Gotte!“ (Ps. 75, 13 [auch: V. 12] [hebr. Ps. 76, 12]). An vielen Stellen der Schrift kann man eine derartige Bedeutung des Ausdruckes „ἡ εὐχή“ [hē euchē] (Gelöbnis) finden; darum verstehen wir, daß εὐχή [euchē] (Gelöbnis), wie gesagt, das Versprechen einer Gabe ist, zu dem Zwecke angeboten, um Gott wohlgefälliger zu werden, während προσευχή [proseuchē] (Gebet) den Hintritt vor Gott bedeutet, der erst nach der Erfüllung des Versprechens stattfindet. Es S. 105 lehrt uns also das Wort, nicht eher Gott um etwas zu bitten, als bis wir ihm ein Geschenk gemacht haben, das ihn erfreut. Man soll nämlich zuerst geloben, und dann beten, wie auch nach dem Sprichwort die Aussaat der Ernte vorangeht. Demnach sollen wir vorher die Samenkörner des Gelöbnisses ausstreuen und dann erst, wenn dieselben zur Reife gediehen, zur Ernte schreiten d. h. auf unser Gebet hin die göttliche Gnade als Gegengabe in Empfang nehmen1. Weil es also außer Zweifel steht, daß unser Hintritt zu Gott nicht zuversichtlich ist, wenn er nicht auf ein vorhergehendes Gelübde oder Geschenk sich stützen kann, so wird das Gelübde notwendig dem Gebete vorausgehen.
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Die L.L. ἀντιλαμβάνοντας [antilambanontas] richtiger als ―τα. [antilambanonta] ↩