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Œuvres Grégoire de Nysse (335-394) De oratione dominica orationes v. Das Gebet des Herrn (BKV)
Zweite Rede: "Vater unser, der du bist in dem Himmel!"

III

Unter der Voraussetzung nun, daß die Erfüllung des Gelübdes bereits erfolgt sei, spricht der Herr zu seinen Jüngern also: „Vater unser, der du bist in dem Himmel!“ „Wer wird mir Flügel geben wie einer Taube?“ ― sagt irgendwo in den Psalmen der große David (Ps. 54, 7 [hebr. Ps. 55, 7]). Ich möchte ebenfalls so rufen, wenn ich es wagen soll, das gleiche Wort wie Jesus zu sprechen. Wer wird mir jene Flügel geben, damit ich die Kraft erhalte, mich im Geiste, wie es der Großartigkeit des Ausdruckes entspricht, soweit aufzuschwingen, daß ich, die ganze Erde unter mir lassend und das darüber liegende Luftmeer durchdringend, die Schönheit des Äthers erreiche und zu den Gestirnen aufsteige, mit Entzücken ihre volle Pracht und Ordnung schauend? Daß ich aber selbst hier noch nicht Halt mache, sondern weiter eilend dem Bereich alles dessen entfliehe, das sich bewegt und verändert, und endlich zu jener Natur komme, die keine Veränderung kennt, zu jener Macht, die ihre Stütze in sich selbst hat, die alles trägt und leitet, was Dasein hat, alles, was von dem unaussprechlichen Willen der göttlichen Weisheit abhängt. Daß ich allem, was der Veränderung und dem Wechsel unterworfen ist, vollständig entronnen in unbewegter, ruhiger Seelenverfassung den Unwandelbaren und Unveränderlichen zuvor durch meine Gesinnung mir geneigt S. 106 mache und dann mit dem vertrautesten Namen anrufe, indem ich spreche: „Vater!“ Welche Seele ist zu diesem Worte notwendig! welches Vertrauen! welches Gewissen! Wenn wir von den dem Begriff Gottes möglichst entsprechenden Namen geleitet nur einigermaßen zur Erkenntnis seiner unaussprechlichen Herrlichkeit gelangt sind und nur etwas eingesehen haben, daß die göttliche Natur, was sie auch sonst noch an sich sein mag, wenigstens Güte, Heiligkeit, Seligkeit, Macht, Majestät, Reinheit, Ewigkeit, Unveränderlichkeit ist; wenn wir ferner von diesen und ähnlichen Eigenschaften des göttlichen Wesens an der Hand der Heiligen Schrift und auf Grund des eigenen Nachdenkens uns die höchste Vorstellung gemacht haben ― wer von uns dürfte es dann wagen, ein derartiges Wort über seine Lippen zu bringen und solch ein Wesen Vater zu nennen?

Soviel ist gewiß: wer nur irgendwie zu denken imstande ist, wird sich, wenn er nicht die nämlichen Eigenschaften, wie an ihm, auch an sich selbst sieht, niemals erkühnen, jenes Wort Gott gegenüber auszusprechen und ihn „Vater“ zu nennen. Denn Vater für Bösewichter zu werden, dazu hat er, der seinem Wesen nach Gute, nicht die Fähigkeit: weder für den durch sein Leben Befleckten der Heilige, noch für den Wankelmütigen der Unveränderliche, noch für die durch die Sünde dem Tode Verfallenen der Urheber des Lebens, noch für die durch schändliche Leidenschaften Entstellten der Reine und Unversehrte, noch für die Habsüchtigen der Barmherzige, noch überhaupt für in irgendwelchem Bösen Befangenen der, welchen wir als den vollkommen Guten erkennen. Denn wenn einer noch der Sühne für sich selbst bedarf1, wenn er sein eigenes böses Gewissen wahrnimmt, voll von Flecken und schlimmen Brandmalen und ohne vorausgehende Reinigung sich in die Verwandtschaft mit Gott eindrängen wollte, indem er ihn als „Vater“ anreden würde, der Ungerechte den Gerechten, der Unreine den Reinen: geradezu eine Beschimpfung und Lästerung2 wären solche Worte, da er doch Gott als den Vater seiner S. 107 Verworfenheit bezeichnen würde; denn der Ausdruck „Vater“ bezeichnet den Urheber dessen, der von ihm stammt. Wenn wir also mit schuldbeladenem Gewissen Gott unseren Vater nennen, so werden wir nichts anderes tun, als wider Gott aussagen, er sei der Urheber und die Ursache unserer Fehler. Aber „keine Gemeinschaft hat das Licht mit der Finsternis“, sagt der Apostel (2 Kor. 6, 14), sondern mit dem Lichte ist nur Licht verwandt und mit dem Gerechten nur der Gerechte, mit dem Guten nur der Gute und mit dem Unversehrten bloß der Unversehrte. Diejenigen, welche solche Eigenschaften haben, die denen Gottes entgegengesetzt sind, müssen sich als jenem verwandt betrachten, der gleicher Art ist, wie sie selbst. Denn „kein guter Baum kann schlechte Früchte hervorbringen“ (Matth.7,18). Wenn demnach einer, der verstockten Herzens ist und die Lüge sucht, wie die Schrift sagt (Ps. 4, 3 [hebr. Ps. 4, 3]), es wagt, die Worte des Gebetes zu gebrauchen, so soll er wissen, daß nicht der Himmlische es ist, den ein solcher Mensch Vater nennt, sondern der Unterirdische, der selbst ein Lügner ist (Is. 8, 44) und jedesmal, sooft jemand eine Lüge tut, als deren Vater angesehen werden muß, er, der die Sünde selbst und der Vater der Sünde ist. Deshalb werden die, welche leidenschaftlichen Herzens sind, als Kinder des Zornes vom Apostel angesprochen (Eph. 2, 3), und wer vom Leben abgefallen ist, wird Sohn des Verderbens genannt (Joh. 17, 12), ebenso ein schlaffer, weibischer Mensch als Sohn entlaufener Dirnen bezeichnet (Judith 16, 13). Aber auch umgekehrt heißen die, welche ein leuchtend reines Gewissen haben, Söhne des Lichtes und des Tages (Eph. 5, 8) und Söhne der Kraft jene, die sich an der Stärke Gottes Kraft geholt haben.

Wenn uns also der Herr lehrt, beim Beten Gott unseren Vater zu nennen, so tut er, wie mir scheinen will, nichts anderes, als daß er uns ein reines, erhabenes Leben anbefiehlt. Denn der, welcher die Wahrheit selber ist, lehrt uns doch nicht lügen, so daß wir vorgeben sollten, etwas zu sein, was wir nicht sind, und daß wir uns einen Namen geben dürften, der uns unserer Beschaffenheit nach nicht zusteht, sondern er verlangt, daß wir eben deshalb, weil wir den Unversehrten, Gerechten und S. 108 Gütigen unseren Vater nennen, eine enge Verwandtschaft mit ihm durch ein makelloses Leben in Wirklichkeit herstellen. Siehst du also, welch ernste Vorbereitung wir zum Gebete notwendig haben! Welch untadeliges Leben müssen wir führen, welch glühenden Eifer müssen wir haben, wenn wir uns mit gutem Gewissen zu solch weitgehender Vertraulichkeit sollen erheben dürfen, daß wir es wagen können, zu Gott „Vater unser“ zu sprechen! Wenn du dagegen nach Geld oder Ehre hungern würdest, wenn du deine Zeit hinbrächtest in Irrfahrten des Lebens, wenn3 du unheilvollen Begierden fröntest und dann doch ein solches Gebetswort in den Mund nehmen solltest ― was meinst du, wird dazu derjenige sagen, der das Leben prüft und den Sinn des Gebetes wohl versteht? Mir ist es, als hörte ich Gott zu einem solchen Menschen ungefähr also sprechen: „Du, dessen Leben befleckt ist, nennst Vater jenen, der der Vater der Unversehrtheit ist? Was besudelst du mit deiner unsauberen Zunge den reinsten Namen? Was mißbrauchst du das Wort des Gebetes4 zur Lüge? Was verunehrst du die makellose Natur? Wärest du mein Kind, so müßte dein Leben meine guten Eigenschaften aufweisen! Nimmer kann ich in dir das Abbild meines Wesens erkennen; vielmehr drücken dir die entgegengesetzten Eigenschaften den Stempel der Nichtverwandtschaft auf! Welche Gemeinschaft hat „das Licht mit der Finsternis“ (2 Kor. 6, 14), das Leben mit dem Tode? Welche Verwandtschaft hat der von Natur aus Reine mit dem Unreinen? Eine große Kluft trennt den Freigebigen von dem Habsüchtigen! Unvereinbare Gegensätze sind der Barmherzige und Hartherzige! Ein ganz anderer ist der Vater deiner schlimmen Eigenschaften. Meine wahren Kinder schmücken sich mit den Eigenschaften ihres Vaters: Kind des Barmherzigen ist der Barmherzige, des Reinen der Reine; die Verkommenheit5 hat einen anderen Erzeuger als den Unverderbbaren. Kurz: aus dem Guten stammt der Gute, aus dem Gerechten der Gerechte. „Von euch aber weiß ich S. 109 nicht, von wannen ihr seid“ ― (Joh. 9, 29). ― Gefährlich ist es also, sich dieses Gebet anzumaßen und Gott seinen Vater zu nennen, ehe man sein Leben geläutert hat.


  1. Nach L.L.: δεόμενος [deomenos] (statt ―ου [deomenou]). ↩

  2. Nach der L.L.: λοιδορία [loidoria] (statt λοιδορίας [loidorias]). ↩

  3. Nach L.L.: εἰ [ei] (statt ἤ [ē]). ↩

  4. Nach L.L.: προσευχῆς [proseuchēs] (statt εὐχῆς [euchēs]). ↩

  5. Nach L.L.: φθορᾶς [phthoras] (statt φθόρος [phthoros]). ↩

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