IV
Doch hören wir abermals die Worte des Gebetes, ob wir nicht etwa eine sichere Erkenntnis des darin eingeschlossenen Sinnes durch häufigere Wiederholung gewinnen! „Vater unser, der du bist in dem Himmel!“ Durch die bisherige Darlegung haben wir die Wahrheit genügend beleuchtet, daß wir uns durch ein tugendhaftes Leben mit Gott verwandt machen müssen. Doch scheint uns die Anrede noch eine weitere Belehrung zu geben. Jene Worte erinnern uns nämlich auch an das Vaterland, aus dem wir vertrieben, und an den Adel, dessen wir verlustig gegangen sind. Denn in der Parabel von dem Jüngling (Luk. 15, 12 ff.), der den Herd des Vaters verließ und zu einem Leben, wie es die Schweine führen, herabsank, zeigt uns das göttliche Wort das menschliche Elend, indem es uns in der Erzählung seine Entfernung und seine Verkommenheit vor Augen stellt; und nicht eher führt es ihn zu seinem früheren Glücke zurück, als bis er sein nunmehriges Unglück fühlt, in sich geht und auf Worte der Reue sinnt. Letztere stimmen so ziemlich mit den Worten des Gebetes überein. Er sprach1 dort nämlich: „Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir“ (Luk. 15, 21). In seinem Bekenntnis hätte er sicher nicht von einer Sünde wider den Himmel gesprochen, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß der Himmel sein Vaterland sei und daß er dasselbe verlassen habe, als er zu sündigen begann. Deshalb machte ihm auch die Ablegung eines solchen Bekenntnisses den Vater so zugänglich, daß dieser sogar auf ihn zueilt und ihm unter Küssen um den Hals fällt ― hiedurch wird auf das geistliche Joch2 hingewiesen, das dem Menschen durch den Mund, das ist durch die Offenbarung des Evangeliums auferlegt wurde, nachdem er dem ersten Joch des Gesetzes sich entzogen und das Gebot abgeschüttelt hatte, das ihm zu seinem Schutze S. 110 gegeben war. Auch zieht er ihm das Gewand an und zwar kein anderes, sondern das erste, dessen er sich durch den Ungehorsam entledigt hatte, mit anderen Worten, sobald er von der verbotenen Frucht genoß, sah er sich in seiner Blöße. Und der Ring an der Hand deutet durch das dem Stein eingegrabene Siegel die Wiedergewinnung des göttlichen Ebenbildes an, nach welchem er geschaffen wurde. Er schützt ferner seine Füße mit den Schuhen, damit er, wenn er mit der nackten Ferse dem Kopf der alten Schlange nahe komme, nicht ihrem Bisse ausgesetzt sei.
Wie also dort die Rückkehr ins Vaterhaus den Vater so gütig gegen den verirrten Jüngling stimmte ― das Vaterhaus versinnbildet den Himmel, gegen den gesündigt zu haben er dem Vater bekennt, ― so scheint mir auch hier der Herr durch seine Weisung, den Vater, der im Himmel ist, anzurufen, dich an jenes herrliche Vaterland erinnern zu wollen, um dir ein heißes Verlangen nach dessen Schönheit einzuflößen und dich dann auf den rechten Weg zu geleiten, der wieder zum Vaterland zurückführt. Der Weg aber, der die Menschen zum Himmel emporführt, ist kein anderer als die völlige Abkehr von den Sünden der Welt, und das Mittel, um die Sünden zu meiden, scheint mir kein anderes zu sein als unsere Verähnlichung mit Gott. Gott ähnlich werden ist aber gleichbedeutend mit: gerecht, fromm, gut und dergleichen werden. Hat nun jemand das Gepräge dieser Tugenden seiner Seele möglichst deutlich eingedrückt, so wird er mühelos, wie von selbst, aus dem irdischen Leben in das himmlische Land übersiedeln. Denn nicht ein räumlicher Abstand trennt Gott und die Menschen, so daß wir irgendeine Vorrichtung oder Erfindung nötig hätten, um unser schwerfälliges irdisches Fleisch in die Wohnung des Geistes und des Körperlosen zu versetzen, sondern da die Scheidung der Tugend vom Bösen in unserem Innern vollzogen wird, bewirkt unser Willensentscheid allein schon, daß wir geistig dort sind, wohin wir uns mit unserer Gesinnung stellen. Weil demnach keine körperliche Anstrengung mit der Entscheidung für das Gute verbunden ist ― der Entscheidung aber folgt auch schon der geistige Besitz dessen, wofür man sich entscheidet ― so kannst du schon dadurch sogleich im Himmel sein, daß S. 111 du Gott in deinen Geist aufnimmst. Wenn nämlich, wie der Prediger (Ekkle. 5, 1) sagt, „Gott im Himmel wohnt“, der Gerechte aber nach dem Propheten (Ps. 73, 28 [ = hebr.] [Septuag. u. Vulgata = Ps. 72, 28]) eng mit Gott verbunden ist, so wirst du, falls du so mit Gott verbunden bist, mit zwingender Notwendigkeit dort sein, wo Gott ist, das ist im Himmel. Mit seiner Anordnung also, Gott im Gebete unseren Vater zu nennen, hat uns der Herr anbefohlen, durch einen Gott gefälligen Wandel dem himmlischen Vater ähnlich zu werden. Die nämliche Mahnung, nur noch deutlicher, gibt er anderwärts mit den Worten: „Werdet vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth. 5, 48).