III
Doch was bedeutet der Zusatz: „Wie im Himmel, also auch auf Erden“? Dies Wort weist, wie mir scheint, auf eine tiefere Wahrheit hin und leitet zu einer Auffassung der gesamten Schöpfung ein, wie sie Gottes würdig ist. Was ich meine, läuft auf folgendes hinaus: die vernünftigen Geschöpfe lassen sich in solche mit einem Körper und in solche ohne Körper einteilen; die körperlose Klasse bilden die Engel, die körperliche wir Menschen. Weil des schwerfälligen Leibes ledig - ich meine unseren festen, zur Erde niederziehenden Leib - bewegen sich die reinen Geister in jener Region der Welt, die oberhalb der Erde ist, wo sie mit ihrer flüchtigen und rasch beweglichen Natur an leichten und ätherischen Orten wohnen; wir dagegen haben wegen der Verwandtschaft unseres Leibes mit der Erde das irdische Leben, das einem schmutzigen Bodensatz gleicht, als Anteil erhalten, dem wir nicht entfliehen können. Ich kann nicht unfehlbar sagen, was Gott hiebei bezweckte: vielleicht wollte er die ganze Schöpfung unter sich dadurch verwandt machen, daß weder die Erde hier unten ohne allen Anteil an dem Himmel droben wäre noch der Himmel ohne Anteil an der Erde, insofern im Menschengebilde beide eine Vereinigung ihrer Gegensätze feiern, die ihr Begriff mit sich bringt. Denn einerseits wohnt die geistige Seele, die doch gleicher Abstammung und gleichen Geschlechtes mit den Engeln des Himmels zu sein scheint, in Leibern, die aus der Erde ihren Ursprung ableiten; andererseits wird dies aus der Erde genommene Fleisch bei der Wiederherstellung aller Dinge in das Reich des Himmels zugleich mit der Seele versetzt. Der Apostel sagt ja: „Wir werden auf den Wolken dem Herrn entgegen dahingerafft werden in die Luft und immerdar beim Herrn sein“ [1 Thess. 4, 17]. Mag nun die Weisheit Gottes dieses oder noch etwas anderes bezwecken, tatsächlich sind die mit Vernunft begabten Geschöpfe in diese zwei Klassen geschieden und dabei ist die körperlose Natur zur himmlischen Seligkeit berufen worden, die körperliche dagegen wurde wegen ihrer Verwandtschaft mit der Erde auf diese verbannt. Doch beide Naturen, die körperliche und körperlose, haben große Vorzüge gemeinsam: vor allem ist das Verlangen nach dem sittlich Guten mit dem Wesen beider Naturen in gleichem Grade verbunden, und die Persönlichkeit, Unabhängigkeit und Freiheit hat der Herr des Weltalls beiden gleichmäßig anerschaffen, so daß alle Geschöpfe, welche mit Vernunft und Denkvermögen ausgestattet sind, durch ihre eigene freie Willensentscheidung sich selbst bestimmen und leiten. Allein das überirdische Leben ist in jeder Beziehung frei von Unvollkommenheit und auch nicht der geringste Schatten von Unordnung findet sich in demselben; dagegen umgibt jede Art von leidenschaftlicher Erregung und Stimmung das Leben hier unten; das Menschengeschlecht ist hievon wie umlagert. Das göttliche Wort bezeugt, daß das Leben der heiligen Mächte ([d. i. der Engel] frei von Unvollkommenheit und unberührt von jeglicher sündhafter Befleckung ist; alles Böse aber, was es außerhalb des Guten, eben durch die Trennung von diesem überhaupt gibt, ist in die Niederung dieses Erdenlebens wie eine Art Hefe oder Schlamm zusammengeschlossen, und dadurch wird die Menschheit verunreinigt, weil es durch solche Finsternis verhindert wird, das göttliche Licht der Wahrheit zu schauen.
Wenn nun das Leben da droben kein Übel und keine Sünde kennt, das armselige Leben hienieden aber in mannigfache Leidenschaften und Mühseligkeiten versenkt ist, so wird offenbar jenes überirdische Leben, weil rein von jeglicher Unvollkommenheit, in seinem makellosen Zustand durch die Erfüllung des Willens Gottes erhalten - denn wo nichts Böses ist, muß mit Notwendigkeit Gutes sein - unser Leben auf Erden dagegen ist dadurch, daß es aus der engen Verbindung mit dem sittlichen Guten austrat, auch aus dem Willen Gottes ausgetreten. Deshalb werden wir durch das Gebetswort aufgemuntert, unser Leben so von allem Bösen zu reinigen, daß nach dem Vorbild des Lebens im Himmel auch in uns der göttliche Wille restlos zur Geltung und Herrschaft komme. Wir sagen mit unserer Bitte gleichsam zu Gott: „Wie von den Thronen, Mächten und Gewalten und überhaupt von dem ganzen überirdischen Heere dein Wille geschieht und das Böse in keiner Weise die Entfaltung des Guten hindert, so gelange das Gute auch in uns zur vollen Verwirklichung, damit nach Beseitigung jeder Unvollkommenheit dein Wille einen wohlbereiteten Weg in unsere Seele finde!“