II
Wahrscheinlich will die Schrift, so dünkt mir, die nämliche Lehre mehr bildlich und verhüllt vortragen, wenn sie die Schlange als diejenige hinstellt, welche der Eva riet, der Gaumenlust zu frönen. Wenn nämlich dieses Tier, die Schlange, ihren Kopf in die Spalte, in welche sie schlüpfen will, gebracht hat, so kann sie, ― so erzählt man ― am Schwanze nicht mehr leicht zurückgezogen werden, weil die Schuppen auf ihrem Rücken1 gegen die S. 132 Gewalt der Anziehenden sich naturgemäß sträuben. Und während sie, weil alsdann ihr Schuppengewand glatt anliegt und das Dahingleiten erleichtert, in der Bewegung nach vorwärts ganz ungehindert fortkriechen kann, ist es ausgeschlossen, sie an ihrem Hinterteile rückwärts zu ziehen, weil sie durch das Sträuben ihrer Schuppen zurückgehalten wird. Dadurch zeigt uns also das Wort, daß man vor der bösen Lust, welche in die Seele eindringen und ihr gleichsam auf den Rücken kommen möchte, mit aller Sorgfalt sich hüten und alle Spalten verstopfen muß, die ein unvorsichtiger Wandel ihr öffnen könnte; alsdann wird unser Leben rein von der befleckenden Berührung durch das giftige Getier bleiben. Hat allerdings die Schlange der sündhaften Lust den Zugang in unser Inneres gefunden, weil sich das Gefüge oder die Ordnung unseres Lebenswandels gelockert hatte, so wird sie schnell vollends eindringen und sich nicht mehr leicht aus den Räumen der Seele entfernen ― wegen ihrer Schuppen. Unter letzteren sind im bildlichen Sinne die verschiedenen Gelegenheiten zur Lust zu verstehen. Im allgemeinen betrachtet ist nämlich die Leidenschaft der Lust, bildlich gesprochen, nur ein einziges Tier; die bunten und mannigfachen Formen der Lust, die sich durch die Sinne in das Leben des Menschen eindrängen wollen, gleichen den Schuppen der Schlange, die wie die Leidenschaften in buntem Farbenspiele schillern.
Willst du also das Zusammenwohnen mit dem Getier meiden, so hüte dich vor dem Kopfe, das heißt vor dem ersten Anlauf des Bösen; denn darauf zielt, bildlich genommen, die Wendung der Heiligen Schrift: „Sie wird deiner Ferse auflauern und du sollst auf ihren Kopf treten“ (Gen. 3, 15). Nicht den geringsten Zutritt gestatte der Schlange, die in dein Inneres sich schleichen will und nach dem ersten geglückten Versuch sofort ihren ganzen langen Körper nachziehen möchte! Überschreite nicht das Bedürfnis! Das Maß deiner Sorge für das Leben sei die Befriedigung dessen, was hiezu wirklich notwendig ist, durch das, was sich dir gerade darbietet. Wenn aber die Ratgeberin der Eva ein Gespräch über feine Schleckereien anknüpfen würde und du daraufhin zu dem Brote solche und ähnliche Reizmittel als Zukost wünschest, so daß S. 133 deine Wünsche die Grenzen des Nötigen überschreiten, so würdest du bald erfahren müssen, wie die Schlange sachte weiterkriecht, ein Verlangen nach dem anderen weckend. Wenn sie nämlich von der unentbehrlichen Nahrung zur Schlemmerei gekrochen ist, so wird sie zur Augenlust weiterschleichen und dein Verlangen nach den verschiedensten Luxusartikeln reizen wie nach prächtigen Gewändern, nach Dienern von üppiger Schönheit, silbernen Ruhebetten, weichlichen Lagern, durchsichtigen, goldgestickten Kleidern, Thronsesseln, Dreifüßen, Badewannen, Waschkrügen, Trinkhörnern, Kühlgefäßen, Schenkkannen für den Wein, Waschbecken, Leuchtern, Weihrauchgefäßen u. dgl. Hiermit findet aber auch die Begierde nach Vermehrung des Besitzes bei dir Eingang; damit es nämlich nicht an Mitteln zur Beschaffung der genannten Dinge fehlt, sind entsprechend große Einkünfte erforderlich. Infolgedessen wird mancher weinen, der Lebensgefährte seufzen, viele durch den Verlust ihres Eigentums in Trauer geraten, damit jenem Prasser der gewünschte Pomp ermöglicht werde. Ist es aber der Schlange gelungen, zu den angeführten Dingen sich hinanzuwinden und ihren Bauch mit dem anzufüllen, was sie wünscht, so kriecht sie nach der Sättigung weiter und wälzt sich fort zu toller Ausschweifung. Damit ist dann der Gipfelpunkt menschlichen Elendes erreicht.
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nach L.L.: ῥαχίας τῆς φολίδος [rhachias tēs pholidos] (statt τραχείας φολίδος [tracheias pholidos]). ↩