II
Doch wie könnte jemand würdig die Großartigkeit des göttlichen Wortes enthüllen! Der Gedanke, welcher in der Bitte: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ liegt, geht weit über die Erklärung hinaus, welche durch die Worte selbst nahegelegt wird. Ein kühnes Unterfangen ist es, das, was mir hierüber in den Sinn kommt, verstandesmäßig zu erfassen, ein kühnes Unterfangen, die Gedanken in Worten darzulegen. Was enthält nun das Gebetswort? Wie der Apostel sagt: „Seid meine Nachfolger, wie ich Christi Nachfolger bin“ (1 Kor. 11, 1), schwebt Gott den Guten für ihr Handeln als Muster vor; unser Gebetswort will aber, daß im Gegenteil unsere Gesinnung das Vorbild für Gott abgebe. Die Ordnung wird also hier umgekehrt: wie sonst in uns das Gute durch die Nachahmung Gottes zustande kommt, so dürfen wir in diesem Falle zu hoffen wagen, Gott werde unser Beispiel nachahmen. Wenn wir das verlangte Gute vollbringen, wird es uns gestattet, zu Gott ungefähr zu sprechen: Tue, was ich getan habe; folge deinem Diener nach, obgleich du der Herr bist, du, S. 140 der Gebieter der Welt, dem armen Bettler. Ich habe die Schulden erlassen, fordere auch du sie nicht von mir ein; meinen Schuldner habe ich entlassen, daß er fröhlich scheiden konnte; so geschehe auch dem deinen: mache du deinen Schuldner nicht trauriger als ich den meinigen! Gleichen Dank sollen beide dem erstatten, der die Schuld zu fordern hatte. Gleiche Nachlassung soll von uns beiden dem Schuldner zuteil werden: dem meinigen und dem deinigen. Er ist mein Schuldner, ich der deine: dasselbe, was ich über meinen Schuldner beschlossen habe, sei auch bei dir zum Beschluß über mich erhoben; ich ließ ihn frei, laß auch mich frei; ich vergab ihm, vergib du mir! Große Barmherzigkeit habe ich meinem Mitmenschen erwiesen; ahme, o Herr, die Menschenfreundlichkeit deines Knechtes nach! Freilich schwerer sind meine Verfehlungen gegen dich, als die seinigen gegen mich; ich gebe es zu. Indes erwäge auch, wie du in allem Guten uns unendlich weit überragest; deshalb ist es doch billig, daß du nach Maßgabe deiner unaussprechlichen Macht uns Sündern dein Erbarmen schenkest. Gering ist die Menschenfreundlichkeit, die ich erwies; denn meine Natur vermochte nicht mehr zu fassen; du aber bist imstande, eine so große aufzunehmen, welche du willst; deine Macht kennt keine Grenze in der Spendung von Wohltaten.