III
Doch wir wollen noch eingehender1 unsere Gebetsworte betrachten, ob uns nicht durch Ergründung des in ihnen liegenden Sinnes nicht noch weitere Anleitung zu einem gottseligen Leben gegeben werde. Untersuchen wir daher, wodurch einerseits die menschliche Natur schuldbeladen ist und worin wir andererseits eine Vergebung gewähren können; denn aus dieser Erkenntnis werden wir aufs neue das Übermaß der göttlichen Güter einsehen.
Beginnen wir also mit der Aufzählung der menschlichen Verfehlungen gegen Gott! Die erste strafwürdige Schuld zog sich der Mensch vor Gott dadurch zu, daß er von Gott abfiel und zu dessen Widersacher überging, so S. 141 daß er zum abtrünnigen Flüchtling vor seinem natürlichen Herrn wurde. Die zweite Schuld besteht darin, daß er die harte Knechtschaft der Sünde an Stelle seiner Freiheit und Unabhängigkeit eintauschte und es vorzog, der Macht des Verderbens als Sklave zu dienen, statt in der Gemeinschaft mit Gott zu verbleiben. Aber auch dadurch fehlte er, daß er seinen Blick nicht unverrückbar auf die Schönheit Gottes richtete, sondern sein Antlitz der Häßlichkeit der Sünde zuwendete. Welch größeres Unrecht ließe sich denken als diese Geringschätzung der göttlichen Güter und diese Bevorzugung der Lockungen des Bösen? Welch schwere Strafe verdiente sich dadurch der Mensch? Dazu kommt noch die Zerstörung der Ebenbildlichkeit Gottes, die Entstellung des Merkmales der Göttlichkeit, das uns bei der ersten Erschaffung aufgedrückt wurde, der Verlust der Drachmen, das Aufgeben des väterlichen Tisches, die schmutzige Lebensgemeinschaft mit den Schweinen, das Verprassen des kostbaren Reichtums und alle derartigen Verfehlungen, die man durch die Schrift und durch eigenes Nachdenken erkennen kann ― wer könnte sie sämtlich aufzählen? Weil daher der Mensch wegen so vieler und so bedeutender Vergehen von Gott die verdiente Strafe zu gewärtigen hat, so will uns das Wort Gottes durch unsere Bitte belehren, daß wir, selbst wenn wir uns mit aller Sorgfalt vor Verirrungen gehütet hätten, keineswegs mit dem Wahne uns zum Gebete anschicken sollten, als wäre unser Gewissen gänzlich schuldlos. Denn wer wie jener reiche Jüngling sein Leben nach den Geboten einrichtete, möchte vielleicht von seinem Leben das gleiche rühmen, indem er zu Gott spräche: „Das alles habe ich seit meiner Jugend beobachtet“ (Matth. 19, 20), und zur Meinung sich versteigen, daß die Abbitte, die ja nur für Sünder passe, für ihn unnötig sei, weil er nicht gegen die Gebote sich vergangen habe. Und so könnte er zu der Ansicht kommen, dem Unzüchtigen gezieme eine solche Bitte, oder wer durch Habsucht Götzendienst getrieben, müsse um Verzeihung flehen, oder überhaupt für jeden, der durch einen Fehltritt sein Gewissen befleckt habe, sei es geziemend und notwendig, zur Barmherzigkeit seine Zuflucht zu nehmen. Und wenn es gar der große Elias wäre, oder jener, S. 142 der im Geiste und in der Kraft des Elias erschien, der Herrlichste unter den vom Weibe Gebornen (Matth. 11, 11; Luk. 7, 28) oder Petrus oder Paulus oder Johannes oder sonst einer, dessen überragende Hoheit von der Heiligen Schrift bezeugt ist ― wozu könnte jemand fragen, würde ein solcher eine Bitte an Gott richten, durch die er um Vergebung der Schuld fleht, während er sich doch keine Schuld durch Sündigen zugezogen hat?
Damit nun niemand, von solchen Vorstellungen verleitet, sich brüste wie jener Pharisäer (Luk. 18, 11), der von seiner wirklichen Natur kein Verständnis besaß ― wäre er sich recht bewußt gewesen, daß er ein Mensch sei, so hätte er sich wenigstens durch die Heilige Schrift belehren lassen, weil nach ihrem Zeugnis infolge der Verderbtheit unserer Natur kein Mensch sich findet, der auch nur einen Tag vollständig makellos leben würde (Sprichw. 24, 16) ― damit also, sage ich, keine solch hochmütigen Gedanken in den Seelen der Beter entstünden, fordert uns das Wort Gottes durch unsere Bitte auf, nicht auf unsere guten Werke zu sehen, sondern uns immer wieder an die gemeinsame Schuld der Menschennatur zu erinnern, an der jeder so gewiß teilnimmt, wie er an der gleichen menschlichen Natur teilnimmt, und im Andenken daran den ewigen Richter anzuflehen, er möge uns unsere Schulden vergeben. So lange2 wir Menschen alle, ausnahmslos, als lebte Adam in uns, an unserer Natur diese Kleider aus Fellen und die vergänglichen Blätter dieses körperlichen Lebens sehen müssen, die wir uns nach dem Verlust der ewigen, herrlichen Gewänder notdürftig zusammengeflickt haben, indem wir Schwelgerei, Ruhmsucht, hinfällige Ehren, und die schnell vorübergehende Befriedigung der Fleischeslust an Stelle der göttlichen Kleider anzogen, so lange wir den Ort des Jammers schauen, an dem wir zusammen zu wohnen verurteilt wurden, so brechen wir, wenn wir uns gegen Osten wenden ― nicht als ob Gott nur dort zu finden wäre (denn der Allgegenwärtige ist, weil das Universum gleichmäßig S. 143 umfassend, an keinem Ort in besonderer Weise zu finden), sondern weil im Osten unsere ursprüngliche Heimat ist, das heißt das Paradies, aus dem wir verstoßen wurden: „Gott pflanzte das Paradies in Eden gegen Osten“ (Gen. 2, 8) ― wenn wir also gegen Osten blicken und im Geiste die Erinnerung an unsere Verbannung aus den lichten Räumen der Glückseligkeit durch den Aufgang der Sonne erwecken, so brechen wir mit Recht in unsere Bitte um Vergebung aus, wir, die wir beschattet sind vom schlimmen Feigenbaum des Erdenlebens, aus dem Anblick Gottes verwiesen, übergelaufen zur Schlange, welche Erde frißt, auf der Erde sich windet, auf Brust und Bauch kriecht und die uns verführen will, das gleiche zu tun, das heißt, uns irdischem Genuß hinzugeben, unser Herz über niedrige und gemeine Gedanken hinschleppen zu lassen und auch auf dem Bauch zu kriechen, ich meine, alle Zeit und Mühe auf Sinneslust zu verwenden. In solcher Lage uns befindend, sollen wir dem verlorenen Sohn gleichen, wie er nach dem langen Elend, das er als Schweinehirt ertrug, reumütig unsere Gedanken auf den himmlischen Vater richten, und ihn mit den Worten anflehen, die für uns alle ganz passend sind: „Vergib uns unsere Schulden!“ Daher wird jeder, selbst wenn er Moses, Samuel oder sonst einer der hervorragenden Tugendhelden wäre, diese Bitte auch für sich ganz geeignet finden, insofern er Mensch ist, da er an der Natur des Adam und damit auch an seiner Verbannung teilnimmt. Weil wir alle nach den Worten des Apostels in Adam sterben (1 Kor. 15, 22), so werden die Worte der Reue, die sich für Adam schicken, sich auch für uns alle, die wir mit Adam gestorben sind, ebenfalls geziemen, auf daß wir Sündenvergebung erlangen und vom Herrn in Gnaden gerettet werden, wie der Apostel sagt (Eph. 2, 5).