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Werke Gregor von Nyssa (335-394) De oratione dominica orationes v. Das Gebet des Herrn (BKV)
Fünfte Rede "Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern! Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!"
a) Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!

IV

Dies habe ich jedoch nur dargelegt, damit man einmal das vorliegende Gebetswort unter dem Gesichtspunkt des Zustandes betrachte, in welchem das ganze Menschengeschlecht sich befindet. Wenn wir aber den Sinn des Wortes noch näher erforschen, so glaube ich, daß wir nicht S. 144 gezwungen sind, unseren Blick erst auf die Gemeinsamkeit unserer Natur zu richten. Vielmehr genügt für jeden schon das Bewußtsein dessen, was er im Leben getan hat, um ihn zur Bitte um Barmherzigkeit zu nötigen. Denn da unsere Lebenstätigkeit auf dieser Erde sich mannigfach äußert: nämlich teils mittels der Seele und des Geistes, teils mittels der leiblichen Sinne, so ist es, fürchte ich, schwer oder fast ganz unmöglich, sich nicht durch irgendeine Leidenschaft zur Sünde hinreißen zu lassen. Ich meine also: da das Leben des Körpers, das auf Genießen ausgeht, mittels der Sinne sich vollzieht, das Leben des Geistes aber in der Tätigkeit des Denkens und in der Bewegung des Willens, wer steht da so fest und ist so erhabener Sinnesart, daß er auf beiden Gebieten von der Befleckung der Sünde sich rein bewahre? Wer ist in bezug auf das Auge ohne Sünde? Wer hat keine Verantwortung in bezug auf das Gehör? Wer steht jeder tierischen Gaumenlust ganz ferne? Wer ist hinsichtlich des Tastgefühles ganz frei geblieben von verbotener Berührung? Wer kennt nicht die bildliche Wendung der Schrift, durch die Fenster sei der Tod eingedrungen (Jer. 9, 21)? Die Sinne, durch welche die Seele nach außen wirkt und alles, was ihr behagt, erfaßt, hat nämlich die Heilige Schrift Fenster genannt, durch welche, wie es weiter heißt, der Tod Eingang findet. Und tatsächlich gewährt z. B. das Auge dem Tode vielfach Eingang, so wenn der Mensch durch dasselbe einen Zornigen erblickt und zur gleichen Leidenschaft sich entzünden läßt, oder einen Glücklichen, der es nicht verdient, und in Neid gerät, oder einen Hochmütigen, und in Haß aufflammt, oder eine ungewöhnlich schöne Körpergestalt, und ganz in Verlangen nach dem Gegenstand seines Wohlgefallens aufgeht. Ähnlich öffnet auch das Ohr dem Tode die Fenster, durch das, was es hört, und nimmt viele Leidenschaften in die Seele auf: Furcht, Jammer, Zorn, Lust, Begierde, ausgelassene Heiterkeit und ähnliches. Die Befriedigung des Geschmacksinnes ist sozusagen die Mutter aller Übel; denn wer wüßte nicht, daß die unbeschränkte Sorge für den Gaumenkitzel so ziemlich die Wurzel aller Fehltritte im Leben ist? Ihr entspringen Weichlichkeit, Trunkenheit, Schlemmerei, Verschwendung, Völlerei, S. 145 Blasiertheit, Nachtschwärmerei, der tierische und unvernünftige Trieb zu entehrenden Lastern. Ebenso erzeugt der Tastsinn Verirrungen schlimmster Art; denn alles, was Unzüchtige mit ihrem Körper treiben, sind Krankheiten, welche der Tastsinn hervorruft; sie einzeln aufzuzählen, würde zu weit führen; auch würde es gegen den Anstand verstoßen, wollte man in einer ernsten Rede alle Vorwürfe aufnehmen, welche gegen den Tastsinn erhoben werden können.

Wer könnte aber die Unzahl der Sünden aufzählen, die im Geiste und im Willensvermögen begangen werden? Die Schrift sagt: „Von innen heraus kommen die bösen Entschlüsse“ und fügt auch eine Aufzählung der Gedanken bei, welche uns verunreinigen können (Matth. 15, 19). Wenn uns demnach dergestalt die Netze der Sünde umstricken ― durch alle Sinneswerkzeuge und die Regungen der Seele ―, „wer wird sich“, um mit der Schrift zu reden, „rühmen, ein reines Herz zu haben?“ (Sprichw. 20, 9). „Wer ist frei geblieben von Schmutz?“ (Job 14, 4). Eine Befleckung ihrer Reinheit droht der Seele durch die Lust, welche sich vielfach und auf mancherlei Weise in das menschliche Leben einschleicht: durch Seele und Leib, durch Gedanken, durch Empfindungen, durch die Bewegungen des Willens, durch die leiblichen Tätigkeiten. Wer hat da eine Seele, die von diesem Schmutz ganz rein bliebe? Wie sollte er nicht vom Hochmutsdünkel berührt, wie nicht vom Fuße des Stolzes getreten worden sein? Wen hat nicht die Hand zum Sündigen und damit zum Wanken gebracht? Wessen Fuß ist nicht dem Bösen nachgelaufen? Wen hat das unbezähmte Auge nicht befleckt, wen das unbewachte Ohr nicht verunreinigt, der Geschmacksinn nicht gefesselt? Und wessen Herz hat allen törichten Regungen Widerstand geleistet? Da nun diese Zustände bei den mehr tierisch Gesinnten schlimmer, bei den für ihr Heil Besorgteren zwar milder sind, die Gebrechen der Natur aber bei allen Menschen, weil sie an der gleichen Natur teilnehmen, tatsächlich sich vorfinden, so müssen wir alle vor Gott niederfallen und ihn anrufen, er möge uns unsere Schulden vergeben.

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