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S. 146 Doch bleibt ein solches Flehen wirkungslos und findet bei Gott keine Erhörung, wenn uns das Gewissen nicht zugleich Zeugnis gibt, daß es für Gott am Platze sei, uns Barmherzigkeit zu gewähren. Wer also da glaubt, für Gott sei es geziemend, die Menschen zu lieben ― hätte er diese Meinung nicht, so würde er wähnen, Gott lasse sich zu Ungeziemendem und Unpassendem durch unser Gebet verleiten ― der muß auf Grund der Gerechtigkeit sein Urteil über das, was sich geziemt, durch sein eigenes Verhalten gegen die Mitmenschen bekräftigen, damit er nicht vom göttlichen Richter so etwas höre, wie: „Arzt, heile dich selbst! Mich flehst du um Menschenfreundlichkeit an, die du selbst deinem Nebenmenschen nicht erweisen willst? Du betest um Nachlassung der Schulden, warum würgst du deinen Schuldner? Du bittest, daß dein Schuldbrief ausgelöscht werde, während du die Schuldbriefe deiner Schuldner sorgfältig aufbewahrst? Du bittest um Schuldentilgung, und bist dabei entschlossen, das Geld, das du ausgeliehen hast, noch durch Zins zu vermehren! Dein Schuldner sitzt im Gefängnis, du im Hause des Gebetes! Jener jammert, daß er zahlen soll, du aber erachtest es für angemessen, daß deine Schuld dir geschenkt werde! Dein Gebet bleibt unerhört; denn das Wehegeschrei des von dir Bedrückten übertönt es.“ Wenn du die leibliche (= materielle) Schuld lösest, werden die Fesseln deiner Seele gelöst; wenn du verzeihest, wird dir verziehen. Du wirst dein eigener Richter sein, dir selbst das Gesetz (Norm) vorschreiben, indem du durch dein Verhalten gegen den Schuldiger dir selbst den Urteilsspruch von oben bestimmest.
Eine ähnliche Lehre scheint mir der Herr auch an einer anderen Stelle zu geben, wo er seine Forderung in der Form einer Erzählung verkündet. Dort tritt nämlich ein König auf, der mit furchtbarer Strenge zu Gericht sitzt, seine Diener einem peinlichen Verhör unterzieht und von einem jeden Rechenschaft über seine Verwaltung fordert. Einer seiner Schuldner nun, der herbeigeschleppt war, hatte, da er vor ihm niederfiel und ihn, statt das Geld zu bezahlen, anflehte, Barmherzigkeit erlangt; S. 147 dann aber zeigte er sich gegen seinen Mitknecht wegen einer geringen Schuld lieblos und hart; diese Härte versetzte den König in Zorn, und er befahl den Folterknechten, ihn aus dem königlichen Haus zu werfen und so lange in Strafe zu nehmen, bis er die ganze Schuld abgetragen habe. In der Tat sind es nur einige Pfennige, unbedeutend und leicht abtragbar im Vergleich zu Zehntausenden von Talenten, wenn wir die Schulden unserer Brüder gegen uns mit unseren Verfehlungen gegen Gott zusammenstellen. Allerdings ein Unrecht ist die Beleidigung, die der Stolz des anderen dir zufügt, die Bosheit eines Untergebenen oder gar ein Anschlag auf Leib und Leben. Hierüber voll Zorn im Herzen lässest du dich zum Entschluß hinreißen, dies alles zu rächen und bietest deine ganze Erfindungskraft auf, um Rache an deinen Beleidigern zu nehmen. Wenn du aber gegen deinen Knecht in Zorn aufloderst, so bedenkst du nicht, daß nicht die Natur, sondern Macht und Zwang die Menschheit in Knechte und Herren geteilt hat. Denn zum Dienste bestimmte der Ordner des Weltalls nur die vernunftlose Natur, wie der Prophet sagt: „Alles hast du unter seine Füße gelegt, die Schafe, die Rinder, die Vögel, die wilden Tiere und die Fische“ (Ps. 8, 8 [hebr. Ps. 8, 8]). Diese nennt er auch Diener, indem er anderswo in seiner Weissagung schreibt: „(Lobsinget) dem, der den Tieren ihre Nahrung gibt und Gras der Dienerschaft der Menschen1“ (Ps. 146, 8 f. [hebr. Ps. 147, 8 f.]; vgl. Ps. 103, 14 [hebr. Ps. 104, 14]). Den Menschen dagegen hat er mit dem Gnadengeschenk der Freiheit ausgestattet. Daher steht dir nach seiner natürlichen Würde der gleich, der dir nach Gesetz und Herkommen untergeben ist; er hat weder sein Dasein von dir, noch lebt er durch dich, noch hat er seine leiblichen und geistigen Kräfte von dir empfangen. Was brausest du also voll Zorn so sehr gegen ihn auf, wenn er leichtsinnig oder untreu ist, oder wenn er dich verächtlich behandelte? Solltest du nicht vielmehr dich selbst ernstlich prüfen, wie du dich gegen deinen Herrn benommen hast, der dich erschaffen und durch die Geburt ins Dasein S. 148 geführt und an den Wundern der Welt hat teilnehmen lassen, der dir die Sonne hingesetzt, daß du dich ihrer erfreuest, und dir alle Mittel zum Leben aus den Elementen gewährt hat: aus Erde, Feuer, Luft und Wasser; der dir die Fähigkeit des Denkens, die Sinne zur Aufnahme der Außenwelt, die Gabe, Gutes und Böses zu unterscheiden, verliehen hat? Wie nun? Leistest du einem solchen Herrn Gehorsam und gibst du ihm keinen Grund zur Klage? Hast du dich nicht seiner Botmäßigkeit entzogen? Bist du nicht zur Sünde übergelaufen und hast seine Herrschaft mit der des bösen Feindes vertauscht? Hast du nicht das Haus deines Herrn, soweit es auf dich ankam, der Verödung preisgegeben und die Stätte verlassen, wo du auftragsgemäß hättest arbeiten und wachen sollen? Und begehst du nicht durch unerlaubte Taten, Worte und Gedanken so viele Beleidigungen sogar vor seinem Angesichte, da er allgegenwärtig ist und alles sieht? Und in einem derartigen Zustand befindlich und mit so vielen Schulden beladen, vermeinst du deinem Mitknechte eine gar große Gunst zu erweisen, wenn du ihm etwas von seinen Verfehlungen nachsiehst! Wenn wir also Gott um Barmherzigkeit und Verzeihung anflehen wollen, so müssen wir unserem Gewissen das Vertrauen zu dieser Bitte dadurch verschaffen, daß wir vor dieselbe unser Leben als Anwalt hinstellen und in Wahrheit sagen können: „Auch wir haben denen vergeben, die uns schuldig waren.“
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Freilich scheint der Psalmist sagen zu wollen, Gott gebe den Tieren ihr Futter, er lasse aber Kräuter zum Dienste der Menschen wachsen (τῇ δουλείᾳ τῶν ἀνθρώπων) [tē douleia tōn anthrōpōn]. ↩