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Was will nun das bedeuten, was sich an die besprochenen Worte sogleich anschließt? Es dürfte gut sein, auch an diesem nicht vorüberzugehen, sondern es zu betrachten, damit wir, wohl unterrichtet, unsere Bitte zu dem, zu dem wir beten, mit dem Herzen und nicht bloß mit den Lippen emporsenden: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Was, meine Brüder, bedeuten diese Worte? Wie mir scheint, gebraucht der Herr für den bösen Feind verschiedene Namen, indem er ihm nach seinen verschiedenen schlimmen Kraftäußerungen auch verschiedene Bezeichnungen gibt: Teufel, Beelzebub, Mammon, Fürst der Welt, S. 149 Menschenmörder, der Böse, Vater der Lüge usw. Doch auch „die Versuchung“ weist auf etwas hin, was zu ihm gehört. Diese unsere Vermutung wird durch den Zusammenhang bestätigt; denn auf die Worte: „Führe uns nicht in Versuchung!“ läßt der Herr folgen: „Erlöse uns von dem Bösen“, gerade wie wenn durch beides der nämliche bezeichnet würde. Denn wenn bloß derjenige, der nicht in Versuchung gerät, dem Bösen vollständig entrinnt, so nähert sich auch jener, der in Versuchung geraten ist, notwendig dem Bereiche des Bösen; also sind „Versuchung“ und „der Böse“ ihrem Wesen nach ein und dasselbe.
Wozu mahnt uns die Lehre, die uns damit das Gebet erteilt? Wir sollen frei werden von allem, was man in dieser Welt wahrnimmt, in Übereinstimmung mit dem, was der Herr an einer anderen Stelle sagt: „Die ganze Welt liegt im argen“ (Joh. 5, 19). Darum muß sich jeder, der vor dem Bösen bewahrt bleiben will, notwendig von der Welt entfernen. Denn die Versuchungen hätten nicht die Macht, die Seele gefangenzunehmen, wenn sie nicht das Tun und Treiben der Welt den Naschhaften, wie einen Köder an gefährlichem Angelhaken hinhielten. Noch deutlicher kann uns der Gedanke durch andere Gleichnisse werden. Furchtbar ist oft das Meer im Wogenschwall, aber nicht für solche, welche entfernt von ihm wohnen; verheerend wirkt das Feuer, aber nur für den Brennstoff, der in seine Gewalt fällt; schrecklich wütet der Krieg, aber nur für jene, welche an den Schlachten teilnehmen. Wie nun alle, die den Unfällen und Schrecknissen des Krieges entgehen wollen, bitten und flehen, in keinen Krieg verwickelt zu werden, und jene, die das Feuer fürchten, nicht in die Flammen zu geraten, und wer Angst vor dem Meere hat, keine Seefahrt unternehmen zu müssen, so muß auch jeder, der die Tyrannei des Bösen fürchtet, bitten und rufen, ihm nicht überliefert zu werden. Nachdem jedoch, wie schon bemerkt, das Wort Gottes sagt, daß die Welt im argen liege, die Dinge der Welt aber die Anlässe zu den Versuchungen bieten, so fleht, wer bittet, vor dem Bösen beschützt zu werden, gut und passend zugleich, er möge frei von Versuchungen bleiben. Denn keiner wird den Angelhaken verschlucken, wenn er nicht in Lüsternheit die Lockspeise an sich gezogen und verkostet hätte. <150> Wohlan, erheben auch wir uns und rufen zu Gott: „Führe uns nicht in Versuchung!“ das heißt, laß uns nicht in die Verderbnisse des Lebens geraten, „sondern erlöse uns vor dem Bösen“, der die Herrschaft in dieser Welt führt und vor dem wir beschützt werden mögen durch die Gnade Christi. Denn ihm gebührt Ehre und Herrlichkeit zugleich mit dem Vater und dem Heiligen Geiste, jetzt und allezeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.