I
Der Inhalt der Seligpreisung, die uns der Reihenfolge nach jetzt beschäftigen soll, scheint mir den, der das Wort Gottes hört und versteht, in gewisser Weise zu Gott zu machen. Es heißt nämlich: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Ich weiß nun, daß die heiligen Männer an vielen Stellen der Schrift das Wort „barmherzig“ für die göttliche Macht selbst gebrauchen, so David in seinen Psalmen, so Jonas in seiner Prophetie, so der große Moses oftmals in seiner Gesetzgebung. Wenn also die Bezeichnung „barmherzig“ Gott selbst zukommt, will dich da nicht das Wort einladen, Gott zu werden, um dich nach den die Gottheit auszeichnenden Merkmalen zu gestalten? Denn wenn Gott in der von ihm eingegebenen Schrift barmherzig genannt wird, Gott aber der wahrhaft Seligzupreisende ist, so ergibt sich wohl als einleuchtende Folgerung, daß der Barmherzige, auch wenn er nur Mensch ist, doch der göttlichen Glückseligkeit für würdig gilt, weil er in jene Eigenschaft eintrat, nach welcher Gott besonders genannt wird. „Barmherzig ist der Herr und gerecht, und Gott erbarmt sich unser“ (Ps. 114, 5 [= Septuag. u. Vulgata] [hebr. Ps. 116, 5]). Wie sollte es also nicht beseligend für den Menschen sein, durch sein Benehmen das zu heißen und das zu werden, wonach Gott genannt wird. Das Streben nach den höheren Gnadengaben empfiehlt in seinen Worten der göttliche Apostel (1 Kor. 12, 34).
S. 198 Unsere Absicht zielt aber nicht dahin, uns zu überzeugen, daß wir nach dem Guten streben sollen, ― die Hinneigung zum Guten liegt ja ohnehin schon in unserer Natur ―, sondern dahin, daß wir in dem Urteil über das, was gut ist, nicht irre gehen; denn unser Leben irrt sich am meisten nach der Seite, daß wir nicht richtig unterscheiden zwischen dem, was seinem Wesen nach wirklich gut ist, und dem, was nur aus Täuschung dafür gehalten wird. Wenn nämlich das Böse in aller Nacktheit im Leben vor unseren Augen läge und nicht mit dem Schein des Guten übertüncht wäre, so wäre der Mensch niemals zu ihm übergegangen. Wir haben daher Klugheit nötig, um unseren Ausspruch richtig aufzufassen, damit wir über die wahre Schönheit des darin liegenden Gedankens belehrt, uns nach demselben gestalten. Denn wie der Glaube an die Gottheit zwar schon von Natur aus in allen Menschen liegt, sie aber trotzdem, weil sie den wahren Gott nicht kennengelernt haben, im Forschen nach demselben in die Irre gehen, ― viele beten die wahre Gottheit an, die sich im Vater, im Sohne und im Heiligen Geiste darstellt, andere aber sind auf falsche Vorstellungen geraten, indem sie Gott in der Kreatur suchen; nicht selten hat hierin schon eine kleine Abweichung von der Wahrheit der Gottlosigkeit Tür und Tor geöffnet ―, so würde auch bei der uns vorliegenden Seligpreisung, falls wir nicht den wahren Sinn erkannten, der Nachteil für uns nicht gering sein, weil wir von der Wahrheit abirrten.
Was ist nun die Barmherzigkeit und wie wird sie geübt? Und wie ist der selig, der wieder empfängt, was er gibt? Es heißt: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ In seinem zunächstliegenden Sinn fordert uns der Ausspruch zur gegenseitigen Liebe und zum Mitleid auf, weil wegen der Ungleichheit und wegen des Gegensatzes der Lebensverhältnisse nicht alle in der gleichen Lage sich befinden, weder in bezug auf das Ansehen, noch auf die Körperbeschaffenheit noch auf die übrigen Annehmlichkeiten. Das Leben geht nämlich häufig in Gegensätze auseinander: in Knechtschaft und Herrschaft, in Reichtum und Armut, in Achtung und Verachtung, in Gesundheit und S. 199 Krankheit und so auch hinsichtlich der meisten anderen Verhältnisse. Damit nun zwischen dem Zu-Viel und dem Zu-Wenig ein Ausgleich stattfinde und der Mangel durch den Überfluß ersetzt werde, schrieb das göttliche Wort Barmherzigkeit gegen die Geringeren vor. Denn das Bestreben, das Unglück des Menschen zu heilen, wird in uns nur dann entstehen, wenn die Barmherzigkeit unsere Seele zu solchem Entschluß erweicht. Die Barmherzigkeit ist begrifflich der Hartherzigkeit entgegengesetzt; wie der Hartherzige und Unmenschliche unzugänglich ist für alle, welche sich ihm bittend nahen wollen, so geht der Barmherzige in seinem Gemüte gewissermaßen eine Verbindung mit den Dürftigen ein, indem er für die Leidenden so wird, wie deren gedrückter Sinn es wünscht. In der Tat ist die Barmherzigkeit, wie man sie begrifflich erklären und umgrenzen kann, eine Traurigkeit, welche der Mensch aus freien Stücken über fremde Leiden trägt.