IV
„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Welche Rede vermöchte die Tiefe der in dem Ausspruch liegenden Gedanken erschöpfend darzustellen? Denn das Allgemeine und Unbestimmte des Ausdruckes, daß er nämlich nicht beifügt, gegen wen wir Barmherzigkeit üben sollen, sondern einfach sagt: „Selig sind die Barmherzigen“, gestattet uns, in unseren Betrachtungen noch weiterzugehen, als es S. 204 schon geschehen ist. Vielleicht will uns hierdurch das ewige Wort zu verstehen geben, daß die barmherzige Gesinnung, die jetzt seliggepriesen wird, in engem Zusammenhang mit der Traurigkeit stehe, welche unmittelbar vorher seliggepriesen ward. Fast scheint das göttliche Wort in beiden Seligkeiten ungefähr die gleiche Belehrung zu geben. Denn wie wir bei fremden Unglücksfällen schmerzlich berührt werden, wenn etwa gute Freunde unerwartet heimgesucht werden, sei es, daß sie vom Vaterhaus verjagt werden oder aus einem Schiffbruch nur das nackte Leben retten, zu Wasser oder zu Land Räubern in die Hände fallen, Sklaven aus freien Menschen, Kriegsgefangene aus schönen Lebensverhältnissen heraus werden oder sonst ein Leid erfahren, nachdem ihnen bisher das Glück lächelte, ― wie also bei derartigen Vorkommnissen ein gewisser schmerzlicher Zustand der Teilnahme in unserer Seele entsteht, so ist es im Hinblick auf uns selbst wohl noch passender, daß eine solche Stimmung in uns über den unwürdigen Sturz eintrete, den unser Leben erlitt. Wenn wir nämlich erwägen, aus welch herrlicher Wohnung wir vertrieben wurden, wie wir in die Gewalt von Räubern fielen, wie wir, in den Abgrund des Lebens hienieden versenkt, nackt und bloß dastehen, wie viele und wie schreckliche Gewaltherren wir uns auf den Hals zogen, statt unser Leben in Freiheit und Unabhängigkeit zu verbringen, wie wir ein Leben voll Seligkeit durch Tod und Verderben zerstörten, wenn wir, sage ich, diese Erwägungen anstellen, ist es dann noch möglich, daß sich unser Mitleid nur fremdem Unglücke [sich] (aus Ber.: „sich“ streichen) zuwende und unsere Seele nicht auch von Mitleid gegen sich selbst erfüllt werde, eingedenk dessen, was sie besessen und was sie verloren hat?
Was ist bemitleidenswerter als diese Gefangenschaft? Statt des wonnevollen Lebens im Paradiese haben wir ein Land voll Krankheit und Mühsal geerbt; statt jenes leidlosen Zustandes haben wir unzählige Leidensgeschicke geerntet; statt jene erhabene Gesellschaft genießen und mit den Engeln leben zu dürfen sind wir verurteilt, in Gemeinschaft mit den Tieren der Erde zu leben, weil wir für das engelgleiche und leidenschaftslose Leben ein tierisches eintauschten. Wer könnte wohl die S. 205 grausamen Tyrannen unseres Lebens alle aufzählen, diese rasenden, wütenden Gewaltherren? Ein grausamer Despot ist der Zorn, ein anderer der Neid, der Haß; der leidenschaftliche Hochmut ist ebenfalls ein gar schlimmer Tyrann. Ärger als ein Herr, der seine um Geld gekauften Sklaven seinen Übermut fühlen läßt, knechtet eine auf Ausschweifung gerichtete Lust die menschliche Natur zum unreinen Dienst der Leidenschaft. Und die Tyrannei der Habsucht! Welches Übermaß der Grausamkeit überschreitet sie nicht? hat sie die Seele zur Sklavin gemacht, so zwingt sie dieselbe, ihre unersättlichen Begierden zu sättigen, immer zu sich nehmend, um nie satt zu werden, wie ein vielköpfiges Ungeheuer, das durch tausend Mäuler unaufhörlich Futter dem nimmersatten Bauch zuführt; an keinem Gewinne bekommt sie genug, sondern jeder Gewinn reizt sie zu noch größerer Begierde. Wer könnte, wenn er dieses unglückliche Leben betrachtet, unbarmherzig und hart gegen solches Elend bleiben?
Der Grund, weshalb wir gegen uns selbst so wenig Mitleid haben, liegt darin, daß wir unseren Jammer nicht genug fühlen. Fast geht es uns hier wie denen, die der Wahnsinn aus dem rechten Geleise gebracht und denen das Übermaß des Unglückes auch noch das Gefühl für ihre Leiden geraubt hat. Wer aber sich selbst recht erkennt und einsieht, was er früher war und was er jetzt ist, ― Salomo sagt irgendwo, daß Selbsterkenntnis Weisheit verrate (Prov. 43, 10) ― wird stets mit sich selbst Mitleid tragen; dieses wird aber auch gewiß das göttliche Mitleid zur Folge haben, denn es heißt: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“, wohlgemerkt, sie selbst, keine anderen. Darin drückt das göttliche Wort einen ähnlichen Gedanken aus, wie wenn man sagt: „Selig, wer für die körperliche Gesundheit sorgt; denn wer dafür sorgt, wird selbst der Gesundheit sich erfreuen.“ So ist der Barmherzige seligzupreisen, weil die Barmherzigkeit von Seiten Gottes als Frucht in den Besitz des Barmherzigen übergeht, sei es daß wir die Barmherzigkeit in der soeben gefundenen Auffassung nehmen oder in der zuvor erörterten, nämlich in dem Sinne Teilnahme der Seele an fremden Unglücksfällen. S. 206 Beides ist gleich gut: sowohl sich selbst in der dargelegten Weise bemitleiden, als auch Mitleid mit dem Unglück des Mitmenschen tragen. Denn das gerechte Urteil Gottes erhebt die Gesinnung des Erbarmens, die wir Geringeren entgegenbringen, zu einer übergroßen Macht, indem wir auf diese Weise gewissermaßen unsere eigenen Richter werden, da wir in unserem Urteil über bedauernswerte Mitmenschen uns selbst das Urteil sprechen.