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Da nach unserem Glauben nun, der auf Wahrheit beruht, einstens die ganze Menschheit vor den Richterstuhl Jesu Christi treten wird, damit jeder auch an seinem Leibe empfange nach seinen Werken, mögen sie gut oder böse sein1, so darf ich vielleicht sogar ein kühnes Wort sagen: wenn es überhaupt angeht, Geheimnisvolles und Verborgenes in seinen Gedanken zu erfassen, so können wir schon die Seligkeit uns ausdenken, die uns von seiten derer zuteil wird, die unsere Barmherzigkeit erfuhren. Gegen diejenigen, welche uns während ihres ganzen Lebens durch ihr Tun und Lassen Barmherzigkeit erwiesen haben, fühlen wir herzliches Wohlwollen und dieses bleibt billigerweise immerfort und zwar in allen, welche Wohltaten von ihnen genossen haben. Wenn nun beim Gerichte die Empfänger von Guthaben ihren Wohltäter wiedererkennen, was wird dessen Seele empfinden bei den Stimmen der Dankbarkeit, welche laute Segenswünsche über ihn aussprechen vor dem Herrn der ganzen Schöpfung? Wird er noch einer anderen Seligpreisung bedürfen, er, dessen Name vor einer solch gewaltigen Zuschauermenge neben den Besten aufgerufen wurde? Denn daß die Empfänger der Wohltaten zugegen sein werden, lehrt der Wortlaut, welchen nach dem Evangelium der Richterspruch des Königs über die Gerechten und Sünder haben wird; zu beiden spricht er nämlich in der hinweisenden Form, als deute er mit dem Finger auf die Betreffenden: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan, das habt ihr mir getan“ S. 207 (Matth. 25, 40). Mit der Wendung „diesen“ zeigt er die Gegenwart derer an, welche die Wohltaten empfangen haben.
Wer nun auch die leblose Materie des Geldes höher schätzt als die künftige Seligkeit, sage mir nun doch: welches Gold verbreitet solchen Glanz? welches Funkeln kostbarer Edelsteine, welcher Kleiderschmuck ist so herrlich wie jenes Gut, das uns die christliche Hoffnung verbürgt? Ja, wenn der König der Schöpfung sich dem Menschengeschlecht enthüllt, sitzend in Herrlichkeit auf seinem auserlesenen Thron, wenn um ihn die unzähligen Myriaden von Engeln sichtbar werden, wenn sodann einerseits vor allen Augen das Geheimnis des Himmelreiches entschleiert wird und andererseits die furchtbaren Strafen in die Nähe rücken, in der Mitte aber die ganze Menschheit, wie sie vom Beginn der Schöpfung bis zum Ende aller Tage gelebt hat, dasteht zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, bezüglich des Ausganges oft nach beiden Seiten schwankend, weil sogar diejenigen, welche sich während des Lebens ein gutes Gewissen bewahrt haben, wegen der kommenden Dinge in Angst geraten, angesichts dessen, daß andere von ihrem bösen Gewissen wie von einem Henker in die schauerliche Finsternis gezerrt werden, ― wenn dann der Barmherzige unter den segnenden und dankenden Worten derer, die Wohltaten von ihm empfingen, ob dieser Werke mit freudigem Vertrauen vor den Richter hin treten kann, wird da jemand ein solches Glück noch mit dem materiellen und irdischen Reichtum zu vergleichen wagen? würde da auch nur einer an Stelle jener himmlischen Güter alle Berge, Ebenen, Wälder und die Meere annehmen, selbst wenn sie für ihn in Gold verwandelt würden?
Wenn dagegen der, welcher den Mammon unter Siegeln und Schlössern, hinter eisernen Türen und in festen Truhen verwahrte und die geheime Aufspeicherung der Materie höher als jegliches Gebot schätzte, zum dunklen Feuer kopfüber hingeschleppt wird, während alle ihm seine Härte und Unmenschlichkeit vorwerfen, die sie in ihrem Leben an sich erfahren mußten, und ihm zurufen: „Gedenke, daß du dein Gutes schon im Leben erfahren S. 208 hast! du hast in deinen festen Geldschränken auch das Mitleid mit eingesperrt; du hast auf Erden Barmherzigkeit nicht geübt, Menschenliebe nicht gekannt; du bekommst jetzt nicht, was du nicht besessen; du findest nicht, was du nicht hinterlegt; du wirst nicht ernten, was du nicht gesät; deine Ernte entspricht deiner Aussaat: Härte hast du gesät, davon ernte die Garben; die Unbarmherzigkeit hast du hochgehalten, nimm in Besitz, was du liebtest; du hattest kein mitleidiges Auge, auch auf dir wird kein mitleidiger Blick ruhen; um Bedrängte hast du dich nicht gekümmert, auch um dich wird sich niemand kümmern, wenn du zugrunde gehst; verabscheut hast du den Armen, verabscheuen wird dich derjenige, der deinetwegen arm geworden ist“ ― wenn diese und ähnliche Rufe ertönen, wo ist dann das Gold? wo die glänzenden Geräte? wo die unter Siegel verwahrten Schätze? wo die zur Nachtwache bestellten Hunde und die gegen Diebe bereit gehaltenen Waffen? wo die Einträge in die Geschäftsbücher? Was ist das alles in Vergleich mit dem Weinen und Zähneknirschen? Wer wird die Finsternis erhellen? wer die Flammen auslöschen? wer den nie sterbenden Wurm töten?
Darum, geliebte Brüder, wollen wir die Stimme des Herrn beherzigen, der uns in wenigen Worten so vieles über die künftigen Dinge offenbart, und wollen barmherzig sein, auf daß wir dadurch selig werden ― in Christus Jesus, unserem Herrn, dem Ruhm und Ehre sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.Sechste Rede: „Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott anschauen.“
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nach der L.L. τολμηρὸν εἰπεῖν· εἰ [tolmēron eipein: ei] (statt τολμηρόν εἰπεῖν ᾖ, δυναῖον [tolmēron eipein ē, dynaion]). ↩