IV
Aber noch einen Punkt haben wir zu untersuchen, der uns schon im Anfange Schwierigkeiten machte und der noch jetzt ungeklärt ist. Denn wie die Seligen an den Wundern des Himmels teilnehmen, die Gewißheit S. 216 hierüber uns aber, solange die Erreichung des Himmels uns unmöglich scheint, keinen Gewinn bringen kann, so unterliegt es zwar auch keinem Zweifel, daß wir durch die Reinheit des Herzens seligzupreisen sind, aber mit der Art und Weise, diese Reinheit nach eingetretener Befleckung wieder herzustellen, scheint es eine ähnliche Bewandtnis zu haben, wie mit der Erlangung des Himmels, falls man darüber nicht unterrichtet ist. Denn wo ist denn die Jakobsleiter, auf der man zum Himmel aufsteigt? Wo findet sich nach dem Vorbild des Feuerwagens, der den Propheten Elias in den Himmel emportrug, auch für uns der Wunderwagen, der unsere Seele zu den Herrlichkeiten dort oben emporheben und von aller Erdenlast befreien könnte? Denn wer die Leidenschaften erwägt, die unaufhaltsam auf unsere Seele einstürmen, kann es leicht für ganz ausgeschlossen erachten, dieser förmlichen Kette von Übeln zu entrinnen. Aus Leidenschaft sind wir geboren, durch Leidenschaft vollzog sich unsere Entwicklung, in Leidenschaft neigt sich unser Leben seinem Ende zu. So ist das Böse gleichsam zu einem Wesensbestandteil unserer Natur geworden durch die Schuld der Stammeltern, welche im Anfang der Leidenschaft sich hingaben und durch ihren Ungehorsam der Krankheit Eingang verschafften. Wie aber bei allen Tiergattungen durch die ununterbrochene Aufeinanderfolge der Generationen die Wesensbeschaffenheit immer forterhalten wird, so daß die Nachkommenschaft von den Vorfahren ganz die gleiche Natur ererbt, so entsteht auch aus dem Menschen wieder ein Mensch von der nämlichen Beschaffenheit, also aus einem leidenschaftlichen Menschen ein leidenschaftlicher, aus einem sündhaften ein sündhafter. Demnach wird, wenn der Mensch geboren wird, sozusagen die Sünde mitgeboren; und wie sie mit ihm ins Leben eingetreten, so entfaltet sie sich mit ihm und endigt erst in seiner Todesstunde.
Daß aber die Tugend mit tausendfachen Schweißtropfen und Anstrengungen nur schwer erworben, ja mit aller Sorgfalt und Mühe kaum errungen werden kann, lehrt die Heilige Schrift an vielen Stellen. So hören wir in ihr, daß eng und schmal der Weg sei, der ins Himmelreich emporführt, dagegen breit und leicht und geebnet S. 217 die Sündenbahn, die abwärts ins Verderben geht (Matth. 7, 13 f.). Freilich für ganz unerreichbar hat die Schrift das erhabene Leben nicht erklärt, da sie in den heiligen Büchern das wundervolle Leben so vieler tadelloser Männer erzählt. Da aber die Verheißung von der Anschauung Gottes eine zweifache Auffassung zuläßt, einmal die, daß wir die alles übersteigende Wesenheit ganz erkennen würden, dann die, daß wir zur Vereinigung mit Gott auf Grund eines reinen Lebens gelangen werden, so erklärt zwar die Stimme der heiligen Schriftsteller, die erste Auffassung von einer vollen Gotteserkenntnis sei unmöglich, die zweite aber stellt der Herr dem Menschengeschlechte vor Augen durch seine Verkündigung, die uns gerade beschäftigt: „Selig, die eines reinen Herzens sind; denn sie werden Gott anschauen.“