IV
Schwer, um nicht zu sagen unmöglich ist es, daß man das unsichtbare Gut den sichtbaren Freuden und Gütern dieses Lebens vorzieht und den Entschluß faßt, von seinem Hause zu scheiden, Weib und Kinder, Eltern und Geschwister, Jugendfreunde und alle Annehmlichkeiten dieses Lebens zu verlassen, wenn nicht der Herr selbst den von ihm Erwählten und Berufenen beistünde, damit sie jenes Gut erlangen. Denn der Apostel sagt: „Wen er im voraus erkennt, den bestimmt er vorher, beruft, rechtfertigt und verherrlicht ihn“ (Röm. 8, 29). Da nun die Seele durch die Organe des Körpers mit den Annehmlichkeiten des Lebens gleichsam verwachsen ist, z. B. durch das Auge an der Schönheit der Malerei sich ergötzt und durch das Ohr nach Wohlklang sich sehnt, desgleichen durch den Geruch, den Geschmack und das Gefühl auf eine diesen Sinnen entsprechende Weise Freude einatmet, so ist die Seele durch die Macht der Sinne wie mit einem Nagel an die Lebenslust geheftet und gebunden und läßt sich von ihr infolgedessen, weil sie fast zu ihrer Natur gehören, nur schwer losreißen und wird, weil sie nun einmal darin den Schildkröten S. 237 und Schnecken ähnlich wie in (aus Ber.: „in“ einfügen) eine Schalenhülle eingenistet ist, nicht leicht zum Entschluß der Lossagung gebracht, weil das Leben mit Allgewalt sie festhält. Wegen dieses ihres Zustandes läßt sich die Seele demgemäß von den Verfolgern (nicht) (aus Ber.: „nicht“ ist zu streichen) leicht einnehmen und deren Wünschen rasch gefügig machen, wenn sie mit Vermögenseinziehung oder mit dem Verluste eines anderen geschätzten Erdengutes drohen. Wenn aber das lebendige Gotteswort, das nach dem Apostel schärfer und kräftiger ist als jedes zweischneidige Schwert (Hebr. 4, 12), in den wahrhaft Gläubigen eindringt und die schlimmen Verwachsungen (der Seele) mit der Weltlust und die Bande der Gewohnheit durchschneidet und zerhaut, so kann er, nachdem er die Erdenfreuden als eine seiner Seele aufgeladene Last wie ein Wettläufer entschlossen von seinen Schultern weggeworfen hat, leicht und unbeschwert durch die Kampfarena eilen, und beim Laufe steht ihm mit Macht zur Seite der Kampfesordner selbst.
Denn er überlegt nicht, wieviel er verlassen hat, sondern wieviel er empfangen wird. Sein Auge richtet er nicht auf das Angenehme, das er hinter sich ließ, sondern auf das hohe Gut, das vor ihm liegt; auch schmerzt ihn nicht der Verlust des Irdischen, sondern er frohlockt über den Gewinn des Himmlischen. Deshalb begrüßt er jede Strafe, die über ihn verhängt wird, als Mittel und Hilfe, um die verheißene Freude zu erreichen: das Feuer, weil es die Materie läutert, das Schwert, damit es die Verbindung des Geistes mit Fleisch und Welt trennt, überhaupt jede Art von Trübsal und Pein nimmt er bereitwillig an, weil er darin ein Arzneimittel erblickt gegen das Sündengift, das die Sinnenlust enthält. Denn wie die Kranken, welche an unreinen Säften und an Galle leiden, selbst bittere Medizin schlucken, um die Krankheitskeime wegzuspülen, so ist der Gläubige, der, vom Feinde bedrängt, zu Gott eilt, bereit, den Leidensansturm hinzunehmen als ein Mittel, um die Macht der Lust zu brechen; denn wer von Schmerz gepeinigt wird, kann sich nicht der Lust hingeben. Da nun die Sünde durch die Lust eintrat, so wird sie notwendig durch das Gegenteil wieder vertrieben. Wenn also die Tyrannen die Gläubigen wegen ihres Bekenntnisses zum Herrn verfolgen, und S. 238 unerträgliche Martern ersinnen, so bereiten sie durch die Schmerzen eine Seelenarznei, weil sie gerade durch die Leiden, die sie ihnen zufügen, die Krankheit heilen, welche aus der Lust geboren wird. So nimmt Paulus das Kreuz an1, Jakobus das Schwert, Stephanus die Steinigung, der selige Petrus die Kreuzigung mit dem Kopfe nach unten, alle späteren Glaubenskämpfer die mannigfaltigsten Strafarten wie wilde Tiere, Abgründe, Scheiterhaufen, Erfrieren, Abreißen des Fleisches von den Rippen, Eindrücken des Hauptes, Ausstechen der Augen, Abhauen der Finger, Auseinanderreißen des ganzen Körpers von den Schenkeln aus, Hungertod ― all diese und ähnliche Qualen ließen die Heiligen mit Freude über sich ergehen als Reinigungsmittel, damit im Herzen keine Spur von Sünde zurückbliebe, die durch Lust in die Seele dringt, indem sie hofften, daß durch die große und grimmige Schmerzempfindung alle Wunden ganz geheilt würden, welche die Lust etwa der Seele geschlagen hatte. „Selig also, die Verfolgung leiden um meinetwillen.“
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Wohl gedacht an Gal. 6, 14: mihi autem absit gloriari nisi in cruce Domini. ↩