102.
Diese so wackere Frau fragt angelegentlich ihren Bräutigam im Hohenliede: „Wo weilest du, wo ruhest du am Mittag?“1 Christus aber weidet die Seinen in jenem früher erwähnten Lande, und er weidet sie nicht nur, sondern er heißt sie auch die Schuhe von den Füßen lösen, wie Moses als der Erste andeutete2 . Von ihm nehmet denn auch ihr diese Überlieferung und führet vor allem die in die heilige Wissenschaft Einzuweihenden mit sicherer Hand, indem ihr dafür sorgt, daß einem jeden die Schuhe gelöst werden. Diese sind aber bei jedem von uns verschieden; denn jeder hat sie sich durch sein eigen Tun geschnürt. So hört schließlich jeder auf euch, die Jünger und guten Hirten; und wer sich in Götzendienst verstrickt hat, der macht sich davon los auf eure Ermahnung hin, ein anderer sagt sich los vom Ehebruch, ein anderer von der Unzucht, ein anderer vom Diebstahl, wieder ein anderer von der Habsucht. Und nicht genug damit. Sie entsagen auch allen verabscheuungswürdigen Worten und den schändlichen Reden: in der Hoffnung auf Seligkeit gibt sich jeder durch euch, die wackeren Jünger, unter die mächtige S. 158Hand des guten Hirten, um sich weiden zu lassen. Es wird nämlich ein jeder seine Irrtümer ganz aufgeben. Haltet jedem die Wahrheit klar vor Augen, rottet die Götzenbilder aus und saget es offen und frei, wie sehr die irren, welche dieselben verehren. Haltet die Götzen keineswegs für tot, da sie ja nie Leben hatten, sondern zeiget sie nach Gebühr als eitel, nichtig und als Unding auf alle Weise und bei allen. Sie existierten ja nie, so daß man bei ihnen von einem Sein reden könnte, sondern sie sind vielmehr böse Geister, reines Lügengewebe der menschlichen Vernunft, welches Gelegenheit und Reizmittel zum Bösen wurde, indem jeder seine Leidenschaften zum Gegenstande der Verehrung aufstellte. So wurde, sobald einmal diese böse Neuerung bei den Menschen durch die Bosheit der Teufel gemacht worden war, die Unzucht als Gottheit erklärt und in rohen Umrissen Bilder derselben gemacht. Später stellte jeder seine Kunst, die er übte und durch die er sein Fortkommen fand, seinen Kindern zur Verehrung auf, und es bildete sich jeder mit dem Stoffe seines Gewerbes seine Götter, der Töpfer aus Ton, der Zimmermann aus Holz, der Goldarbeiter aus Gold, der Silberarbeiter aus Silber.
