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Herakleitos aber ruft den Ägyptern1 zu: Wenn S. 160es Götter sind, warum betrauert ihr sie?2 Sie beklagen nämlich den Typhon und Osiris und andere unterirdische Gottheiten in lauten Trauergesängen und bejammern sie als Begrabene. Herakleitos wollte sagen: Wenn es Götter sind, warum beweint ihr sie? Wenn sie aber tot sind, dann betrauert ihr sie vergebens. Ein anderer, der Komiker Eudaimon3 , sagt: "Wenn es auch Götter gibt, so kann ich doch nicht von ihnen reden oder eine Vorstellung davon geben, wie sie sind. Denn vieles hindert mich daran." Und Homer4 sagt: "Nichts Gutes ist die Vielherrschaft." Der Komiker Philemon5 aber bemerkt: "Jene, die einen Gott anbeten, haben schöne Hoffnung auf das Heil." Bekanntlich wurde jener Spreu fressende Apisstier von Kambyses6 , dem Könige der Assyrer, mit dem Schwerte am Schenkel verwundet, damit das herausfließende Blut bezeuge, daß dieser Stier kein Gott S. 161sei; die Anbeter des Kronos aber gestehen selber zu, daß ihr Gott mit eisernen Ketten gefangen gehalten werde. Wenn aber einer sich in Haft befindet, so geschieht dies nicht einfach darum, weil er einem Größeren untersteht, sondern der Betreffende ist als Übeltäter in Gewahrsam. Wenn ich nun erst über die Isis sprechen soll7 , die auch Atthis oder Jo heißt, und eine Tochter des Kappadoziers Apis, auch Innachos genannt, war, so schäme ich mich fürwahr einerseits, ihre Handlungen anzuführen, andererseits aber glaube ich mich doch nicht schämen zu sollen, das zu besprechen, was jene göttlich zu verehren sich nicht schämen. Schämen aber sollen sich ihre und der Aphrogeneia8 [Aphrodite] Anbeter, daß sie ihre Töchter und Schwestern anhalten, die Taten dieser Göttin nachzuahmen, da ja diese Göttin, gleichwie sie selbst ihren Bruder Typhon sündlich liebte, auch die anderen zu einer solchen Geschwisterliebe antreibt9 . Ein großer Schandfleck an dieser Göttin ist es, daß sie daß Schmachvolle an dieser Liebe zu ihrem eigenen Bruder nicht erkennt und nicht zufrieden ist mit dem Umgange nicht verwandter Männer, sondern bis zu ihrem eigenen Bruder sich verirrt. Ja noch mehr; diese Göttin zeigt sogar in ihrer unersättlichen Wollust ein Beispiel eines Brudermordes. Sie hatte auch einen Sohn Horus, dem niemand Gewißheit verschaffen konnte, wer sein leiblicher Vater sei; darum war er auch in beständigem Zweifel, ob er den Typhon als Vater ehren und lieben oder dem Osiris Kindesliebe erweisen sollte. Fürwahr ein schöner Gott das, den eine derartige Mutter selbst unterrichtete, die durch zehn Jahre in Tyrus als öffentliche Dirne lebte! Indem sie aber den Serapis oder Apis, den König der S. 162Sinopesier, vergötterten, dienten sie mehr dem Befehle eines Tyrannen als der Wahrheit.
Im Texte steht Αἰγύπτος. Da aber von einem Ägypter Heraklitus, dem unser Diktum beigelegt wurde, nichts bekannt ist, so wird die Stelle mit Petavius in obiger Weise zu verbessern sein, um so mehr, als Clemens von Alexandrien, den unser Autor vor Augen hat, sagt: Ὦν ὁ μέν τις παρενγγυᾷ τοῖς Αἰγυπτίοις. Noch sei bemerkt, daß in der Note zu dieser Stelle des Clemens in der Ausgabe des Joh. Potter, Oxonii 1715, tom. 1, pag. 21 ausgeführt wird, unter diesem τίς sei Xenophanes zu verstehen, was aus dem letzten Buche περὶ δεισιδαιμονίας des Plutarch belegt wird. [W.] Vgl. dazu von Wilamowitz a. a. O., wo für das folgende gezeigt wird, "daß die Auszüge verschiedener Vorlagen roh ineinander geschoben sind". ↩
Der Ausspruch wird von den Kirchenvätern vielfach verwendet. Juliυs Firmicus Maternus sagt: "Si dii sunt quos colitis, cur eos lugetis ? cur eos annuis luctibus plangitis ? Si lacrimis ac luctu digni sunt, cur eos divino honore cumulatis ?" [De errore propan. relig. ed. C. Halmius, Vindobon. 1867 pag. 90.] Minucius Felix: Nonne ridiculum est vel lugere quod colas vel colere quod lugeas ? Octavius c. 22, ebd. 31. ↩
In Wirklichkeit handelt es sich um ein Bruchstück aus Protagoras, das von Wilamowitz a. a. O. 763 rekonstruiert. Dort findet man Aufschluß über die Verwechslungen, die unserem Kirchenvater bei den folgenden Zitaten und mythologischen Angaben begegneten. Letztere sind in der Hauptsache aus dem "Protreptikus" des Clemens Al. und aus Theophilus von Antiochien geschöpft. ↩
Il. 2, 204. ↩
So ist der Namo aus Enphemon verbessert nach Theophilus ad Autolyc. III, 7. Dortselsst findet sich der Trimeter: οἱ γὰρ θεὸν σέβοντες ἐλπίδας καλὰς Ἕχουσιν εἰς σωτηρίαν. ↩
Bei E. heißt es ὑπὸ Καμπυος. ↩
Nach Holl ist vor Isis vielleicht anzusetzen: περὶ Νέφθυος καὶ ... ↩
von Wilamowitz liest hier ἀφρογενεῖς, was durch einen argen "Gallimathias“"“so etwas wie aphroditisch und dann weiter verbuhlt bedeuten“ soll. ↩
Migne gr 43, 206 D.: "Corruptissimns hic locus est," Zu der eigentümlichen Fortbildung von Plutarch de Is. et Osir. c 12 [Holl] vgl. von Wilamowitz a. a. O. ↩
