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Doch wozu soll ich die ganze Menge der Schandtaten dieses trefflichen Verführers und Lehrmeisters der Unzucht anführen, dessen Grabmal so vielen bekannt ist? Wird es ja doch auf dem sogenannten Berge Lasios auf Kreta bis heute gezeigt. Zeus war nicht nur einer oder zwei, sondern es gab deren drei oder vier. Unter diesen war jener, der den Beinamen Kronide hat, und der seinen Vater auf dem Berge Kaukasus in den Tartarus stürzte. Der zweite wurde Latiarus genannt, und von ihm stammen die Ringkämpfer ab. Ein anderer war der sogenannte Tragodos, der sich die Hand verbrannte. Obzwar er nämlich ein Gott war, so vergaß er doch, daß das Feuer brenne, und wußte nichts von den Worten, die das Feuer zu dem bocksfüßigen Satyr sprach, der zuerst dasselbe entdeckte und hinging, um es liebend zu umfassen: ,.Rühre mich nicht an, du Bock; denn wenn du mich berührst, so wirst du dir den Bart verbrennen!" Auch Athene gab es nicht etwa nur eine, sondern mehrere. Eine irrte umher und hielt sich am tritonischen Sumpfe auf; eine zweite war die Tochter des Okeanos, eine andere des Kronos und so dergleichen mehr. Auch Artemis gab es viele: eine zu Ephesus, eine andere war des Zeus Tochter und so noch eine ganze Reihe. Von den Dionysoi war der eine ein Thebaner, ein anderer Sohn der Semele, ein dritter Vorsteher der Korybanten, wieder ein anderer ist jener, der von den Titanen zerrissen wurde, wobei die Kureten die mystische Fleischverteilung vornahmen. Von Herakles, den man den Übelverteiler nennt, will ich die übrigen Taten übergehen und nur eine derselben, die nämlich von ihm besonders gepriesen wird, anführen. Es hätte S. 164ihm ja wohl genug sein können, diese einzige Tat vollführt und damit der Menschheit Heil gebracht zu haben. Wenn er nämlich nicht in einer Nacht fünfzig Jungfrauen geschändet hätte, wie hätte anders dann die Welt gerettet werden können? Gewiß wäre sie sonst ganz zugrunde gegangen. Doch, um kurz zu sein, gestehe ich gerne, daß es mich verdrießt, einen förmlichen Lasterkatalog1 zusammenzustellen. Zu alledem haben ja Könige und unmenschliche Tyrannen manche ihrer Lieblinge, nachdem dieselben begraben waren und sie ihnen keinen anderen Beweis ihrer Gunst und Liebe mehr geben konnten, indem sie ja auch selbst sterbliche Menschen waren, unter ganz verwerflichen Vorwänden von ihren Untertanen göttlich verehren und ebenso ihren Grabdenkmälern göttliche Huldigung erweisen lassen. So wurde Antinous, der in der ihm geichnamigen Stadt starb und in einer Lustbarke begraben wurde, von Hadrian unter die Götter versetzt, ebenso Timagenes in Asien; Kanobus, der Steuermann des Menelaus, und seine Gemahlin Enmenuthis, beide in Alexandrien am Meerufer, zwölf Meilensteine von der Stadt, begraben, werden ebenfalls göttlich verehrt. Marnas, des Kreters Asterias Sklave, wird bei den Gazäern, der Schiffsherr Kasios bei den Pelusiern verehrt.
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von Wilamowitz a. a. O. 771. Spaßhaft ist καταλογάδην, das er für "in einem Katalog" braucht, während es "in Prosa'" heißt. ↩