31.
Möchten daher doch alle die Tiefe des göttlichen Ratschlusses bedenken und erwägen und nicht gerade die Gnade Gottes zur Ungnade verkehren, indem sie sein Heilswerk an uns auffassen als eine Beeinträchtigung der Ehre der unaussprechlichen und unbegreiflichen S. 53göttlichen Natur. Von Gott, sagt man, steht geschrieben: "Er wird nicht hungern und nicht dursten, und unergründlich ist seine Weisheit"1 ; vom Sohne aber, daß er "nach der Versuchung in der Wüste hungerte"2 . "Euer Gott", heißt es3 , "wird nicht müde werden." Der Herr Jesus aber "ermüdete" auf der Reise4 . "Es schlummert nicht und schläft nicht, der Israel bewacht"5 . Der Herr aber "schlief" im Schiffe. O, wie eitel sind die Gedanken derjenigen, die solche Einreden gebrauchen! Hat ja doch der heilige Logos, da er uns zu Liebe kam, nicht nur unsere Lasten auf sich genommen, sondern er wollte auch berührt werden können6 , er nahm Fleisch an und wurde als ein Mensch befunden und von den Schriftgelehrten gefangen genommen und [es erfüllte sich]: "Ich gab meinen Leib den Geißelhieben preis und wendete mein Antlitz nicht ab von denen, die mich schmähten und anspien"7 . Ja, er weinte auch, wie in dem Evangelium nach Lukas8 , und zwar in dem unkorrigierten Texte enthalten ist, und es bediente sich dieser Stelle auch der hl. Irenäus in S. 54seinem Werke gegen die Häresien9 gegen diejenigen, welche behaupten, daß Christus nur dem Scheine nach auf Erden gewandelt sei. Orthodoxe aber haben diese Stelle ausgemerzt aus Ängstlichkeit, weil sie deren Zweck und guten Sinn nicht kannten, Jesus, heißt es ferner, "da er mit dem Tode rang", schwitzte, und "sein Schweiß war wie Blutstropfen, und es erschien ein Engel und stärkte ihn"10 . Und nicht nur das, sondern er fragt auch in menschlicher Weise: "Wo habt ihr den Lazarus hingelegt?"11 , und betreffs jenes blutflüssigen Weibes : "Wer hat mich berührt?"12 , und diejenigen, die ihn suchten: "Wen sucht ihr?"13 Auch die Jünger fragt er in echt menschlicher Weise: "Für wen halten die Leute mich, des Menschen Sohn"14 , und wiederum: "Wieviele Brote habet ihr bei euch?"15 Ermüdet vom Wege saß er ferner am Brunnen in Samaria. Von ihm berichtet die Schrift: "Das Kind wuchs und ward stark im Geiste"; "Jesus nahm zu an Alter und an Weisheit"16 . Auch ist von ihm gesagt: "Bevor der Knabe verstehen wird zu nennen Vater und Mutter, wird er erlangen die Schätze von Damaskus und die Beute von Samaria"17 , von ihm, der die Weisheit ist, "der die Menschen Erkenntnis lehret, der den Menschen das Ohr eingepflanzet"18 , der den Menschenkindern die Sprache verliehen hat und "der Unmündigen Zunge beredt gemacht hat"19 . Dies alles hat er für uns auf sich genommen, damit er die ganze Konsequenz der unsertwegen gewirkten Menschwerdung tragend, die Echtheitsnote [derselben] nicht verwische.20
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Is. 40, 28. ↩
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Matth. 4, 1 ff. ↩
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Is. 40, 28. ↩
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Joh. 4, 6. ↩
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Ps. 120, 4. ↩
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ὑπὸ ἁφὴν ἐγένετο, eine öfter wiederkehrende Wendung, wodurch das Eingehen des geistigen Gottes in die materielle Welt durch die Menschwerdung einen Ausdruck hekommt, dessen Weg vielleicht durch philosophische Erinnerungen markiert ist: In dem Begriffe der ἁφή hatten sich für Aristoteles die Schwierigkeiten zusammengedrängt, die ihm die nähere Erklärung der Einwirkung Gottes, des ersten Bewegers, auf die Welt bereitete. Denn "Berührung", ἁφή , war ihm die conditio sine qua non des kausalen Vorganges. So entstand für ihn eine Spannung zwischen, dem Begriff des geistigen Gottes und der Vorstellung einer Bewegung der Materie, eine Schwierigkeit, wie sie ja ähnlich das psychophysische Problem immer noch mit sich bringt. — Die Neuplatoniker nannten ἁφή das mystische Bewußtsein von der mitteilenden Gottheit. — Vgl. Windelband, Gesch. d. Phil. 2. A. S. 197. 184. 1924. ↩
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Is. 50, 6. ↩
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Luk. 19, 41 ; vgl. ebd. 22, 41 ff. ↩
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"Irrtum; vgl. Iren. adv. haer. III. 22, 2; II 122; Harvay [adv. haer. I. 20, 2 ; I 179 Harvey]." [Holl.] ↩
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Luk. 22, 43—44. ↩
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Joh. 11, 34. ↩
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Luk. 8, 45. ↩
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Joh. 18, 4. ↩
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Matth. 16, 18. ↩
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Mark. 6, 33. ↩
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Luk. 2, 40; 2, 52 ↩
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Is. 8, 4. ↩
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Ps. 93, 10. ↩
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Weish. 10, 21. ↩
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Näheres darüber c. 33, 34. 36. ↩