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Werke Epiphanius von Salamis (315-403) Ancoratus Der Festgeankerte (BKV)
Brief

38.

Wenn aber Christus nach Menschenart redet und fragt: "Wo habt ihr den Lazarus hingelegt?"1 , und betreffs des blutflüssigen Weibes: "Wer hat mich berührt?"2 , oder: "Wen suchet ihr?"3 , "Für wen halten die Leute des Menschen Sohn?"4 , und wenn es ferner von ihm heißt: "Der Knabe wuchs und ward stark"5 , "Er nahm zu an Alter und Weisheit"6 , oder endlich: "Bevor der Knabe Vater und Mutter zu nennen wußte"7 , — erkennst du nicht gerade aus dem Texte selbst mehr als deutlich, daß hier vom Leibe und von der Menschheit aus geredet wird? Denn was immer im Alten Testament von der Person Gottes des Vaters zur Lehre für die Menschen verlautet, so, als verrate es ein Nichtwissen, während doch Gott es sicher weiß — das alles hat der Logos, nachdem er gekommen, ausgeführt, um so das Wort zu erfüllen:8 "Mein Vater wirket bis jetzt, und auch ich wirke"°]9 . So fragt er: "Wo habt ihr den Lazarus hingelegt?" nachdem er schon nahe zur Begräbnisstätte hingekommen war; schon ehe er dorthin ging, sagte er, ohne es von jemand gehört zu haben, zu seinen Jüngern: "Lazarus, unser Freund, schläft"10 . S. 66Wenn er also, da er doch eine so große Strecke Weges entfernt war, wußte, daß Lazarus tot sei, sollte er, da er an Ort und Stelle war, es nicht gewußt haben? Er wollte aber nur zeigen, daß er alle diese Wundertaten vollführte, während noch niemand einen vollkommenen Glauben zu ihm habe, und er wollte so seine schonende Liebe und Menschenfreundlichkeit gegen uns offenbaren. Dann allerdings wohl hätten jene Schwestern des Lazarus nicht sagen sollen: "Er ist schon vier Tage tot, er riecht schon", ebensowenig durften sie hingehen und den Begräbnisplatz zeigen, sondern sie hätten sprechen sollen: "Du weißt alles, und wenn du willst, so wird er leben." Deshalb weinte auch der Herr über die Herzenshärte der Menschen. Nicht Unwissen ist also der Grund seiner Frage, sondern er tadelt prüfend und handelt menschenfreundlich. Ebenso ist die Frage: "Wer hat mich berührt?" nicht so zu verstehen, als ob er es nicht gewußt hätte, sondern [er fragt] damit er nicht selber das gewirkte Wunder verkünden müsse, vielmehr jenes Weib diese Frage höre, herbeikomme, die ihr widerfahrene Liebestat verkünde und nach ihrem Bekenntnisse höre: "Dein Glaube hat dich geheilt", auf daß so auch andere zum Glauben gebracht und geheilt würden. Das Wort: "Für wen hält man des Menschen Sohn?" ist in derselben Art und Weise gesagt, wie im Alten Testamente der Vater fragt: "Adam, wo bist du?" Denn Gott der Vater wußte wohl, wo Adam wäre, und daher tadelt er ihn auch sogleich, sprechend: "Du hast vom Baume gegessen"11 . So spricht er auch den Kain an: "Wo ist Abel, dein Bruder?" und er fragte nicht, um es erst zu erfahren, denn er fügt gleich bei: "Verflucht bist du auf der Erde, die aufgetan hat ihren Mund, um aufzunehmen deines Bruders Blut aus deiner Hand. Siehe, das Blut desselben schreit zu mir"12 . Wenn Gott sagt: "Das Blut deines Bruders schreit zu mir", so fragte er wohl nicht nach demselben aus Unkenntnis, sondern darum, weil er dem Kain die Möglichkeit der Buße zu seiner Entschuldigung geben wollte.


  1. Joh. 11, 34. ↩

  2. Luk. 8, 46 ; Mark. 5, 30. ↩

  3. Joh. 18, 4. ↩

  4. Matth. 16, 18. ↩

  5. Luk. 2, 40. ↩

  6. Ebd. 2, 62. ↩

  7. Is. 8, 4. ↩

  8. Der Sinn dieses Satzes dürfte folgender sein: Der Offen-barungsgott des Alten Testamentes redet ab und zu in Fragen, als ob er, der Allwissende, etwas nicht wüßte. So machte es auch Jesus Christus, der Offenbarungsgott des Neuen Bundes, der fleischgewordene Logos, wie in allem so auch hierin der Erfüller des Alten Bundes. Seine Fragen sind also pädagogisch begründet. ↩

  9. Joh. 5, 17. ↩

  10. Ebd. 11, 11 ↩

  11. Gen. 8, 9. ↩

  12. Ebd. 4, 9. 11. ↩

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