15.
Nicht allein die Wunden des Leibes ziehen den Tod nach sich, wenn man sie nicht pflegt, sondern auch jene der Seele. Und dennoch haben wirs in der Unbedachtsamkeit so weit gebracht, daß wir die ersteren zwar eifrig pflegen, die andern aber verwahrlosen. Oft stößt dem Leibe manch unheilbares Uebel zu, und doch verzagen wir nicht; sondern wenn wir die Aerzte auch immerfort sagen hören, daß dieses oder jenes Leiden durch Arzneimittel nicht gehoben werden könne, lassen wir dennoch nicht ab, in sie zu dringen, daß sie doch eine geringe Linderung herbeiführen möchten. Geht es aber die Seele an, welche keiner unheilbaren Krankheit unterworfen ist (denn sie unterliegt nicht der Nothwendigkeit der Natur), da sind wir sorglos, gleich als ob es fremde Uebel wären, und verzagen; — wo die Beschaffenheit der Krankheit uns in Hoffnungslosigkeit stürzen dürfte, da lassen wir uns die Genesung angelegen sein, als wenn uns die besten Hoffnungen zustünden: und da, wo wir mit nichten die Hoffnung aufgeben dürften, lassen wir von aller Sorge ab und geben uns verloren, als hätten wir nichts zu hoffen: so viel mehr kümmern wir uns um den Leib als um die Seele.
So vermögen wir dann auch den Leib nicht zu retten. Denn wer den höheren Theil vernachläßigt und alle Mühe auf den geringeren verwendet, der wird sie beide zerstören und verderben. Wer aber die rechte Ordnung beobachtet und das Vornehmere rettet und bewahrt, der wird, wenn S. 330 für das zweite auch nicht sorgt, schon durch die Rettung des ersten auch das andere retten. Dieses zeigt uns Christus in den Worten: „Fürchtet nicht jene, die den Leib tödten, die Seele aber nicht tödten können; fürchtet vielmehr den, der die Seele und den Leib in der Hölle verderben kann.“1
Bist du nun überzeugt, daß man die Krankheiten der Seele nimmermehr als unheilbar betrachten darf? oder soll ich noch weitere Gründe anführen? Wenn gleich du selbst dich aufgibst, ich werde dich nimmer aufgeben: was ich an andren tadle, deß will ich nicht selber schuldig werden. Es ist indeß nicht gleichviel, ob einer an sich selbst verzweifelt, oder ein anderer an ihm. Denn wer sich bezüglich eines andern einer solchen Meinung hingibt, dem kann man es vielleicht verzeihen, aber nimmermehr dem, der an sich selbst verzweifelt. Warum so? Der erstere ist nicht Herr über den Eifer und die Reue des andern; über sich selbst aber hat ein jeder ganz allein zu gebieten. Und dennoch wird’ ich dich nicht aufgeben, wenn auch du selbst es tausendmal thust. Vielleicht, ja es gibt vielleicht noch einen Weg zur Tugend zurück und zur Befreundung mit dem vorigen Leben.
Vernimm noch das Folgende. Die Niniviten wurden nicht entmuthigt, als der Prophet laut rief und unverhohlen dräute: Drei Tage noch und Ninive wird untergehen; sondern, obschon sie nicht mit Zuversicht hoffen konnten Gott zu versöhnen, obschon sie vielmehr das Gegentheil aus der ausdrücklichen Ankündigung erwarten mußten (denn der Spruch war nicht bedingnißweise ergangen, sondern es war ein reiner, unbedingter Ausspruch), so wirkten sie dennoch Buße und sagten: „Vielleicht mag’s ihn gereuen, vielleicht wird Gott sich versöhnen lassen und sich abwenden von dem Zorne seines Grimmes, auf daß wir nicht untergehen.“ Und Gott sah ihre Werke, daß sie sich bekehrten von ihren bösen Wegen, und es gereute Gott das Verderben, das er gedroht ihnen anzuthun, und er that es nicht.
S. 331 Wenn schon das heidnische und unerleuchtete Volk soviel einzusehen vermochte, um wie viel mehr ziemt es uns, deßgleichen zu thun, da wir in den göttlichen Lehren unterwiesen sind und solcher Vorbilder eine große Menge in Lehren und in Begebenheiten kennen gelernt haben!
Denn es heißt2: „Meine Gedanken sind nicht wie eure Gedanken und meine Wege nicht wie eure Wege; sondern so weit der Himmel entfernt ist von der Erde, so viel sind meine Gedanken höher denn eure Gedanken und meine Wege höher denn eure Wege.“
Diener, die oft gefehlt haben, nehmen wir, wenn sie Besserung versprechen, wieder an und setzen sie wieder in den vorigen ehrenvollen Stand ein, ja wir gestatten ihnen oft sogar noch mehr Freiheit: um wie viel mehr thut dieses Gott: Hätte er uns deßhalb erschaffen, um uns zu strafen, dann dürftest du freilich die Hoffnung aufgeben und an deinem Heile zweifeln. Wenn er uns aber gebildet hat aus lauter Güte, und damit wir die ewigen Güter genießen mögen, und wenn er hiefür Alles anordnet und ins Werk richtet vom ersten Tage an bis auf die gegenwärtige Stunde: was kann denn noch einen Zweifel erwecken?
Wir haben ihn schwer beleidigt, wie niemand sonst unter den Menschen. Nun denn gerade deßhalb müßen wir uns aus dem gegenwärtigen Zustand losreißen, das Vergangene bereuen und eine durchgreifende Aenderung erweisen. Denn der Frevel, dessen wir uns einmal unterstanden haben, kann ihn so schwer nicht beleidigen, als wenn wir uns fürder gar nicht mehr bekehren wollten. Denn in Sünde gerathen, das mag menschlich sein, aber darin zu verharren, das ist nicht mehr menschlich, sondern geradezu satanisch. Sieh, auch durch den Mund des Propheten:3 rügt Gott dieses strenger als das erste. „Ich sagte zu ihr“, heißt es, „nachdem sie dieses alles gethan: Kehre um zu mir: und sie kehrte nicht um.“ Und an einer andern Stelle,4 da er S. 332 sein inniges Verlangen nach unserm Heil zu erkennen geben will, sagt er, da er hört, wie sie nach den zahllosen Ungerechtigkeiten den rechten Weg zu betreten verhießen: „Möchte doch ihr Herz in ihnen,“ spricht er, „also beschaffen sein, daß sie mich fürchteten und meine Gebote beobachteten alle ihre Tage, auf daß es ihnen wohl ergienge und ihren Söhnen in Ewigkeit.“
Und Moses5 sprach in einer Rede an sie: „Nun aber, Israel, was begehrt der Ewige von dir, als daß du den Ewigen deinen Gott fürchtest und auf allen seinen Wegen wandelst und ihn liebest?“
Wenn er demnach begehrt von uns geliebt zu werden, und wenn er dafür Alles thut und aus Liebe zu uns nicht einmal seinen Eingebornen verschont hat; wenn es ihm zur Freude gereicht, daß wir uns mit ihm aussöhnen: wie sollte er die Reumüthigen nicht in Liebe aufnehmen?
Höre noch, wie er durch den Propheten redet:6 „Bekenne du zuerst deine Ungerechtigkeiten, damit du gerechtfertigt werdest.“ Und dieses fordert er von uns, damit unsere Liebe zu ihm stärker werde.
Denn wenn ein Liebender, auch nachdem er von den Geliebten schwer beleidigt worden, seine Liebe trotzdem nicht erlöschen läßt, so will er aus keiner andern Ursache ein offenes Bekenntniß jener Beleidigungen, als damit er die Größe seiner Liebe erweise und jene so zu einer größern und stärkern Liebe hinreisse. Wenn aber schon das Bekenntniß der Sünden so reichen Trost gewährt, so wird ein noch viel größeres Maaß erworben, wenn man sie durch gute Werke abwäscht. Wenn es nicht also sich verhielte, sondern wenn er jenen, die einmal vom geraden Wege abgewichen, die Rückkehr in den vorigen Stand benähme, dann würde wohl freilich niemand, ein geringes und bald gezähltes Häuflein ausgenommen, in das Reich des Himmels eingehen. So aber finden wir, daß jene, die am hellsten hervorleuchten, vorher gefallen waren. S. 333 Denn jene, die im Bösen eine große Thätigkeit bewiesen haben, werden hinwiederum im Guten eine gleiche beweisen, weil sie wissen, wie groß die Schulden sind, für die sie sich verantwortlich gemacht haben.
So lehrte auch Christus, als er zu Simon in Betreff des Weibes redete:7 „Siehst du“, spricht er, „dieses Weib? Ich kam in dein Haus, und du hast kein Wasser auf meine Füße gegossen, sie aber hat mit ihren Thränen meine Füße benetzt und mit ihrem Haar sie abgetrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben, sie aber hat, seitdem ich hergekommen, nicht aufgehört die Füße mir zu küßen. Du hast mein Haupt nicht mit Oel gesalbt, sie aber hat mit köstlicher Salbe mir die Füße gesalbt. Deßhalb sag ich dir: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, weil sie viel geliebt hat. Wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Und er sprach zu ihr: „Deine Sünden sind dir vergeben.“
