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Jene aber, welche es etwa versuchen, mich von den Wehklagen abzubringen, red’ ich mit den Worten des Propheten1 an: „Gehet hinweg von mir, weinen will ich S. 395 bitterlich; dringet nicht in mich, um mich zu trösten.“ Denn auf mir lastet nun nicht ein solches Leid, daß mir das Uebermaaß der Trauer eine Rüge zuziehen könnte; sondern ein solches, um dessentwillen auch ein Petrus oder ein Paulus ohne Scheu weinen und trauern und jeden Trost verschmähen würden. Denn solchen, welche über diesen uns allen gemeinsamen Tod klagen, könnte man mit Fug und Recht ihre große Verzagtheit zum Vorwurf machen. Wenn aber anstatt des Leibes eine Seele todt da liegt, mit zahllosen Wunden bedeckt und selbst im Tode noch ihren früheren Adel bekundend und ihre Gesundheit und die erloschene Schönheit, wer ist da so grausam und mitleidslos, daß er anstatt der Trauer und der Thränen Trostreden vorbrächte? Denn wie es in jenem Fall weise ist nicht zu weinen, so in diesem zu weinen. Er, der himmelwärts vorgedrungen, der der Eitelkeit der Welt spottete, der leibliche Schönheit gleich wie schöne Marmorbilder ansah, der das Gold wie Thon und alle Lust wie Koth verschmähte, dieser ist uns nun plötzlich von der Gluth schmählicher Begierde ergriffen worden, er hat Gesundheit und Mannhaftigkeit und alle Schönheit eingebüßt und ist ein Knecht der Lüste worden. Ueber diesen nun, antworte mir, sollen wir nicht weinen und nicht trauern, bis daß wir ihn wieder gewinnen? Könnte denn dieß eine menschliche Seele? Den Tod des Leibes kann hienieden nichts mehr ungeschehen machen, und dennoch lassen sich dadurch die Leidtragenden nicht abhalten von ihrer Trauer. Den Tod der Seele aber kann man nur hienieden noch rückgängig machen. Denn es heißt:2 „Wer wird in der Hölle dir lobsingen?“
Wäre es denn nun nicht eine große Verkehrtheit, wenn jene, die um einen Leichnam klagen, so tiefe Trauer zeigen, und zwar wiewohl sie wissen, daß ihr Wehklagen den Todten nimmer auferweckt, wir dagegen nichts solches äußern sollten, da wir doch wissen, daß man oftmals Hoffnung ha- S. 296 ben darf die Verlorne Seele wieder ins frühere Leben zurückzubringen? Viele sind ja in unserer Zeit sowohl als in den Tagen unserer Voreltern, nachdem sie vom aufrechten Stand weggedrängt und von dem steilen, schmalen Pfad hinabgestürzt waren, in einer Weise wieder aufgestanden, daß sie die frühere Schuld mit den nachfolgenden Verdiensten zudeckten und den Preis errangen, daß sie mit dem Kranz geschmückt unter den Siegern verkündet und unter die Schaar der Heiligen gezählt wurden. Zwar so lang als einer noch in der Feueresse der Lüste steht, wird ihm solche Umkehr unmöglich dünken, wenn er auch tausend Beispiele dafür hätte; beginnt er aber auch nur eine kurze Strecke von dort heraus zu gehen, so läßt er im Vorschreiten die Feuergluth immer weiter hinter sich, den Weg aber, den er zu wandeln hat und der vor seinen Füßen ist, wird er mit Thau befeuchtet und frei von Beschwerden finden. Nur verzweifeln dürfen wir nicht und der Umkehr nicht entsagen. Denn wem dieß widerfährt, dem hilft es nichts, hätte er auch noch so große Stärke und noch so großen Eifer. Denn wer sich einmal die Pforte der Buße verriegelt und den Eingang zum Schauplatz des Wettkampfes sich versperrt, wie soll der noch eine preiswürdige That, sei’s in Leichtem oder in Schwererm, vollführen können, da er draußen bleibt? Darum wendet der böse Feind Alles an, um diesen Gedanken tief in uns einzusenken. Es kostet ihn dann unser Widerstand keinen Schweiß und keine Mühe mehr. Wir liegen ja darnieder und sind gefallen und wollen uns nicht ferner wider ihn erheben. Wer aber dieser Fessel zu entschlüpfen vermag, der wird die eigene Kraft wieder gewinnen und bis zum letzten Odemzug nicht aufhören mit ihm zu ringen. Und wenn er auch noch tausendmal fällt, so wird er doch wieder aufstehen und den Feind bezwingen. Wer aber von den Gedanken der Verzweiflung gefesselt ist und so die eigene Stärke lahmt, wie sollte der noch den Sieg gewinnen und Widerstand leisten können da er vor dem Feinde die Flucht ergriffen hat?
