KAPITEL VI.
Als nämlich einer unserer Freunde, des Hochmutes und Unverstandes verleumderisch beschuldigt, in die äußerste Bedrängnis geraten war, da stürztest du dich mitten in die Gefahren hinein, ohne daß jemand dich selbst angeklagt, ohne daß jener bedrängte Freund dich darum gebeten hätte. Das war eine deiner trefflichen Taten. Um dich aber auch aus deinen Worten zu überführen, will ich noch an das von dir dabei Gesprochene erinnern. Denn als die einen diesen deinen Eifer mißbilligten, die anderen aber lobten und bewunderten, da erwidertest du den Tadlern: Was hatte ich tun sollen? Ich weiß nicht anders zu lieben, als daß ich auch mein Leben aufs Spiel setze, wenn es gilt, einen Freund aus einer Gefahr zu retten. Zwar mit anderen Worten, aber in demselben Sinne sprachst du das Nämliche aus, was Christus seinen Jüngern verkündete, als er das letzte Ziel der vollkommenen Liebe erläuterte: "Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben hingibt für seine Freunde"1. Ist demnach keine größere Liebe zu finden als diese, dann hast du dieselbe in ihrem höchsten Ideal verwirklicht und hast sowohl durch Taten wie durch Worte ihren Gipfelpunkt erreicht. Darum also habe ich dich verraten, darum habe ich jene List angezettelt. Bist du nun überzeugt, daß ich nicht aus Böswilligkeit, nicht in der Absicht, dich in Gefahr zu stürzen, sondern in S. 132 dem bewußtsein, du würdest großen Segen stiften, dich in diese Laufbahn hineingedrängt habe?
Glaubst du denn, frug er mich dann, es genüge zur Besserung unserer Mitmenschen die Kraft der Liebe?
Allerdings, erwiderte ich, vermag sie außerordentlich viel dazu beizutragen. Wünschest du aber, daß ich auch von deiner Klugheit 2 noch Beweise beibringe, so werde ich auch dazu mich bereit finden und zeigen, daß du noch größere Einsicht besitzest als Liebe.
Über diese Worte wurde er ganz rot vor Scham und bemerkte: Was mich persönlich betrifft, so lasse das alles beiseite; habe ich doch hierüber von Anfang an keine Rechenschaft von dir verlangt. Wenn du jedoch etwas Rechtes vorzubringen hast denen gegenüber, die uns ferne stehen, das möchte ich gerne vernehmen. Laß also diese Spiegelfechterei und sage mir, was wir auf die von anderer Seite erhobenen Einwände zu unserer Verteidigung geltend machen sollen, und zwar sowohl gegen die, welche uns eine so hohe Ehre erwiesen haben, als auch denen gegenüber, welche diese3 bedauern, als seien sie von uns verächtlich behandelt worden.