KAPITEL VII.
Niemand hat Christus inniger geliebt als Paulus; niemand hat größeren Eifer bewiesen als er; niemand ist reicherer Gnade gewürdigt worden. Aber trotz solch erhabener Vorzüge 1 zagt und zittert er noch in Anbetracht dieses Amtes und der ihm untergebenen Personen. "Denn ich fürchte", sagt er, "daß, wie die Schlange Eva verführt hat 2, so auch eure Gemüter verderbt und der Einfalt, die in Christus ist, entfremdet werden"3. Und hinwiederum: "In Furcht und mit vielem Zittern bin ich bei euch gewesen"4. So spricht ein Mann, der bis in den dritten Himmel entrückt 5und in unaussprechliche göttliche Geheimnisse eingeweiht war, der so viele Todesnöten erduldete, als er, gläubig geworden, Tage erlebte, ein Mann, der nicht einmal von der ihm von Christus verliehenen Vollmacht Gebrauch machen wollte6, damit keiner der Gläubigen Ärgernis nehme.
Wenn nun derjenige, der mehr tat, als wozu die Gebote Gottes verpflichteten, der nirgends seinen eigenen Vorteil, sondern den seiner Untergebenen suchte7, im Hinblick auf die Erhabenheit seines Amtes immer so sehr von Furcht erfüllt war, wie wird es da uns ergehen, die wir gar oft nur auf unseren Vorteil bedacht sind, die wir uns nicht nur nicht über die Gebote Gottes hinaussetzen, sondern dieselben zum großen Teil sogar übertreten? "Wer ist schwach", sagt er, "und ich bin nicht schwach? Wer wird geärgert, und ich brenne nicht?"8 So muß der Priester beschaffen sein, oder vielmehr nicht nur so; denn das ist wenig, ja gar nichts im Vergleich zu dem,S. 148 was ich im Begriffe bin, hervorzuheben. Was ist nun das? "Ich wünschte", erklärte er, "im Banne zu sein von Christus weg um meiner Brüder willen, die meine Verwandten sind dem Fleische nach"9. Wenn jemand imstande ist, eine solche Sprache zu führen, wenn jemand eine Seele besitzt, die sich zu einem derartigen Wunsche aufzuschwingen vermag, der verdiente mit Recht einen Vorwurf, wenn er sich durch die Flucht entziehen wollte. Steht aber einer vor dieser Seelengröße soweit zurück wie ich, dann ist es berechtigt, ihn zu verabscheuen, nicht wenn er das Amt flieht, sondern wenn er es annimmt. Dergleichen auch, wenn es sich darum handelte, für den Kriegsdienst eine würdige Wahl zu treffen, und es würden die zur Übertragung dieses Ehrenamtes Berechtigten einen Schmied oder Schuster oder irgendeinen anderen derartigen Handwerker auf den Schild erheben, um ihn an die Spitze des Heeres zu stellen, dann würde ich einen solch Bedauernswerten wahrhaftig nicht loben, wenn er nicht die Flucht ergriffe und nicht alles täte, um sich nicht ins offene Unglück zu stürzen.
Ja, wenn es genügen würde, einfach Hirte zu heißen und das Amt, so wie es sich gerade trifft, zu verwalten, ohne dabei Gefahr zu laufen, so könnte jeder, der wollte, mich der Ehrsucht beschuldigen. Wenn aber derjenige, der diese sorgenvolle Aufgabe auf sich nimmt, eine hohe Einsicht, eine noch reichlichere Gnade von Gott, einen aufrechten Charakter, einen reinen Lebenswandel, eine mehr als menschliche Tüchtigkeit besitzen muß, dann wirst du mir wohl die Verzeihung nicht vorenthalten, da ich mich doch nicht ohne weiteres und leichtfertig ins Verderben stürzen will. Denn erteilte mir jemand den Auftrag, ich sollte ein riesiges Lastschiff, bemannt mit zahlreichen Ruderknechten und voll belastet mit kostbarer Fracht, am Steuer sitzend, über das Ägäische oder Tyrrhenische Meer lenken, dann würde ich mich schon beim ersten Worte davonmachen, und wenn mich jemand fragte: warum? so würde ich antworten: Um nicht den Untergang des Schiffes zu verschulden. Da nun, wo es S. 149 sich nur um den Verlust zeitlicher Güter handelt und höchstens die Gefahr des leiblichen Todes droht, macht niemand denen einen Vorwurf, die große Vorsicht gebrauchen; wo aber den Schiffbrüchigen in Aussicht steht, nicht in das irdische Meer, sondern in den feurigen Abgrund zu sinken, und wo sie nicht der Tod erwartet, welcher die Seele von dem Leibe trennt, sondern der die Seele mit dem Leibe ewiger Strafe überliefert, da wollt ihr mir zürnen und mich verabscheuen, weil ich mich nicht unbedachtsam in solches Unheil gestürzt habe?
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Manche Ausgaben wie Savilius, Migne setzen nach „τοσαῦτα“ noch „πλεονεκτήματα“. ↩
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In manchen Ausgaben wie bei Savilius, Migne ist in Übereinstimmung mit dem Bibeltext beigefügt: „ἐν τῇ πανουργίᾳ αὐτοῦ“. ↩
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2 Kor. 11, 3. ↩
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Vgl 1 Kor. 2, 4. ↩
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Vgl. 2 Kor. 12, 2 ff. ↩
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Vgl. 1 Kor. 9, 15. ↩
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Vgl. ebd. 10, 24. 33; 13, 5; Phil. 2, 4. ↩
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2 Kor. 11, 29. ↩
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Röm. 9, 3. ↩