KAPITEL VI.
Das ist es gerade, erwiderte ich, was so viele zugrunde richtete und sie gegenüber der wahren Lehre lässiger machte. Da sie nämlich die Tiefe der Gedanken des Apostels nicht vollkommen zu erfassen noch in den Sinn seiner Worte einzudringen vermochten, so haben sie all ihre Zeit mit Kopfnicken und Mundaufsperren zugebracht und eine derartige Unwissenheit verteidigt, allerdings nicht die, deren Paulus sich rühmt, sondern eine solche, von welcher er so weit entfernt war, wie kein anderer der Menschen unter unserem Himmel. Aber diese Frage bleibe uns für einen anderen Zeitpunkt aufgespart. Bis dahin sage ich nur soviel: Setzen wir den Fall, Paulus sei hierin, so wie jene Leute wollen, wirklich unbewandert gewesen; was hat das jedoch für eine Bedeutung für unsere jetzigen Zeitgenossen? Denn er besaß eine Macht, die viel wertvoller war als die des Wortes und die mehr auszurichten vermochte. Er brauchte sich nur öffentlich zu zeigen, ohne etwas zu reden, und er flößte den Dämonen schon Schrecken ein. Alle jetzt Lebenden dagegen sind, selbst wenn sie unter unzähligen Gebeten und Tränen sich vereinigen, nicht im- S. 200 stande, so viel zu erreichen, als einstmals die Gürtel Pauli vermochten 1. Paulus erweckte durch seine Gebete Tote und wirkte noch andere derartige Wunder, daß er bei den Heiden sogar für einen Gott gehalten wurde 2. Ja er ward schon, bevor er aus diesem Leben schied, gewürdigt, bis in den dritten Himmel entrückt zu werden und Worte zu vernehmen, die zu hören sonst der Menschennatur nicht gewährt ist 3. Aber betreffs der jetzt Lebenden — ich will indes kein unangenehmes oder bitteres Wort verlauten lassen; denn auch das, was ich jetzt vorbringe, sage ich nicht, um ihnen zu nahe zu treten — kann ich nur meine Verwunderung aussprechen, daß sie nicht davor zurückschrecken, sich mit einem so hoch stehenden Manne zu vergleichen.
Denn wenn wir auch die Wunder beiseite lassen, sondern bloß das Leben des seligen Paulus berücksichtigen und seinen engelgleichen Wandel ins Auge fassen, so wirst du sehen, daß dieser Streiter Christi noch mehr Siege durch sein Leben errungen hat als durch seine Wunderzeichen. Wie könnte man seinen Eifer, seine Nachsicht, seine beständigen Gefahren 4, seine fortwährenden Sorgen, seine unaufhörliche Angst um die einzelnen Kirchengemeinden 5, sein Mitleid mit den Schwachen 6, seine vielen Drangsale, seine immer von neuem einsetzenden Verfolgungen, sein tägliches Sterben 7 überhaupt beschreiben? Welcher Ort auf der ganzen Welt, welches Land, welches Meer kennt nicht die mühevollen Kämpfe dieses Gerechten? Selbst die unbewohnte Wüste hat seine Bekanntschaft gemacht und ihm, wenn er in Gefahr schwebte, wiederholt Aufnahme gewährt. Hat er doch Nachstellungen jeder Art erduldet und nach allen Seiten hin Siege davongetragen. Niemals hat es ihm weder an Kämpfen noch an Kränzen gefehlt. Aber ich weiß nicht, wie ich mich dazu verleiten S. 201 ließ, diesen Mann zu verkleinern8 Denn seine wohlgelungenen Taten ragen über jeden Versuch hinaus, sie durch Worte zu schildern, über die meinigen zumal so sehr, wie die Redegewandten mich übertreffen. Gleichwohl kann ich mich — denn der Selige wird mich nicht nach dem Erfolge, sondern nach dem guten Willen beurteilen — nicht enthalten, das noch zu sagen, was über das bis jetzt Vorgebrachte in solchem Grade erhaben ist, wie Paulus über alle Menschen. Was ist das denn? Nachdem er so gewaltige Erfolge errungen, nachdem er mit unzähligen Siegeskränzen ausgezeichnet worden, wünschte er, in die Hölle zu fahren und der ewigen Strafe überliefert zu werden 9, damit die Juden, welche ihn zu wiederholten Malen gesteinigt und, soviel wenigstens an ihnen lag, getötet hatten, gerettet würden und zu Christus gelangten. Wer hat jemals Christus so innig geliebt, wenn man überhaupt das noch Liebe nennen kann und nicht vielmehr etwas anderes, das mehr ist als Liebe? Werden wir nun uns jetzt noch mit ihm vergleichen nach solcher Gnade, die er von oben empfangen, nach solcher Tugend, die er für seine Person an den Tag gelegt hat? Was könnte wohl vermessener sein als dieses Unterfangen?
Daß jedoch Paulus auch nicht in dem Sinne unwissend war, wie die früher erwähnten Leute meinen, auch das will ich im folgenden nachzuweisen suchen. Sie nennen nicht bloß denjenigen unwissend, der nicht in dem Blendwerk heidnischer Wissenschaft bewandert ist, sondern auch den, welcher nicht für die Lehren der Wahrheit zu kämpfen weiß. Und sie haben Recht. Paulus aber hat sich nicht nach beiden Seiten hin als unwissend bezeichnet, sondern nur nach der einen. Und indem er diese Versicherung abgegeben, hat er genau die Unterscheidung gemacht, daß er wohl im Reden unbewandert sei, aber nicht in der Erkenntnis 10. Würde ich [vom Priester] die Glätte eines Isokrates, die Wucht eines De- S. 202 mosthenes, die Würde eines Thukydides und den Tiefsinn eines Plato verlangen, so wäre dieses Zeugnis Pauli dagegen vorzubringen. Nun aber lasse ich all das, sowie den überflüssigen Schmuck der heidnischen Schriftsteller beiseite, kümmere mich überhaupt nicht um den Stil und Ausdruck. Es darf vielmehr die Redeweise arm sein, die Zusammenstellung der Wörter einfach und kunstlos, nur in bezug auf die Erkenntnis und das genaue Verständnis der Glaubenswahrheiten soll keiner unwissend sich zeigen und jenem Heiligen sein größtes Gut und seinen höchsten Ruhm zu entreissen suchen, um dadurch die eigene Unfähigkeit zu verdecken.
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Siehe Apg. 19, 11, 12. ↩
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Siehe ebd. 14, 10—12. ↩
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2 Kor. 12, 2 ff. ↩
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Vgl. 2 Kor. 11, 26. ↩
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Vgl. ebd. 11, 28. ↩
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Vgl. 1 Kor. 9, 22; 2 Kor. 11, 29. ↩
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Vgl. 1 Kor. 15, 31. ↩
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Denn schon jeder Versuch,.des Apostels Großtaten mit Worten zu schildern, ist eigentlich eine Verkleinerung; sie sind hierfür zu erhaben. ↩
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Siehe Röm. 9, 3. Vgl. oben Buch III, 7. ↩
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2 Kor. 11, 6. ↩