KAPITEL IX.
Wenn z. B. über Glaubenssätze eine Meinungsverschiedenheit entsteht und alle auf Grund der nämlichen Schrift streiten, welchen entscheidenden Einfluss vermag da der Lebenswandel auszuüben? Was hat es für einen Nutzen, daß jemand noch so viele praktische Arbeit leistet, wenn er nach allen diesen Mühsalen wegen großer Unwissenheit in eine Irrlehre verfällt und so vom Leibe der Kirche ausscheidet? Und das ist, wie ich genau weiß, schon vielen begegnet. Was hilft ihm dann alle seine Selbstüberwindung?1 Nichts, so wenig wie bei schlechtem Lebenswandel der richtige Glaube etwas nützt. Darum muß derjenige, dem die Aufgabe zugefallen ist, andere zu lehren, in solchen Kämpfen ganz besondere Erfahrung besitzen. Denn mag er auch für seine Person ohne Wanken dastehen, ohne daß er selbst von Seiten der Widersacher Schaden erleidet, so gilt dies nicht von der großen Menge der Einfältigen, die ihm unterstellt ist. Wenn sie nämlich sehen, daß ihr Führer unterliegt und den Widersachern nichts entgegenzuhalten vermag, so schreiben sie die Schuld für dessen Niederlage nicht seinem persönlichen Unvermögen zu, sondern der Unhaltbarkeit des betreffenden Glaubenssatzes. Und so wird infolge der Unwissenheit des e i n e n Mannes eine große Masse ins tiefste Verderben gestürzt. Wenn sie auch nicht vollständig auf die Seite der Gegner übertreten, so fühlen sie sich doch verleitet, Dinge zu bezweifeln, an denen sie mit Zuversicht festhalten sollten, und vermögen nicht mehr Wahrheiten, denen sie mit unerschütterlichem Glauben zugestimmt hatten, mit der gleichen Festigkeit ergeben zu sein. Vielmehr wird infolge der Niederlage ihres Lehrers ihre Seele von einem solchen Sturme erfaßt, daß das Übel schließlich mit einem Schiffbruch enden muß. Wie ungeheuer aber das Verderben, wie gewaltig das Feuer ist, das sich über dem unglücklichen Haupte des Urhebers für jeden einzelnen dieser Verlorenen anhäuft, das brauchst du nicht von mir zu erfahren, das alles weißt du selbst ganz genau. S. 208
Das sollte also ein Zeichen von Hochmut, ein Zeichen von Ehrsucht sein, daß ich nicht die Schuld für das Verderben so vieler Leute auf mich nehmen und mir selbst keine größere Strafe zuziehen wollte, als die mir jetzt ohnedies dort bevorsteht? Wer wollte so etwas behaupten? Niemand; außer wer ohne Grund zu tadeln und bei fremdem Unglück seine [vermeintliche] Weisheit zu zeigen geneigt wäre. S. 209
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In dem Ausdruck „καρτερία“ ist der gesamte christliche Lebenswandel gemeint. ↩