KAPITEL V.
Wenn er auch eine große Redegewalt besitzt — die man freilich nur bei wenigen antreffen dürfte —, so ist er doch nicht fortwährender, mühevoller Arbeit enthoben. Denn da die Beredsamkeit nicht Naturanlage, sondern Sache fleißigen Erlernens ist, läßt sie selbst den, der hierin den Höhepunkt erreicht hat, im Stich, wenn er nicht durch anhaltenden Fleiß und beharrliche Übung seine Begabung weiter bildet. Deshalb müssen die begabteren Redner viel mehr Arbeit aufwenden als die minderbegabten. Es ist nämlich der Nachteil, wenn beide Kategorien nachlässig sind, nicht der gleiche, sondern er ist bei ersteren um soviel Größer, als beide an Fähigkeiten sich voneinander unterscheiden. Den letzteren dürfte niemand Vorwürfe machen, wenn sie nichts Nennenswertes bieten. Wenn hingegen erstere [die Begabteren] nicht noch Bedeutenderes leisten, als jedermann von ihnen erwartet, so haben sie von allen Seiten vielfache Vorwürfe zu gewärtigen. Dazu kommt, daß die weniger begabten Redner auch bei unbedeutenden Leistungen mit großem Lob bedacht werden, während die Predigten der Begabteren, wenn sie nicht ganz besondere Bewunderung und Verblüffung erregen, nicht nur jeglichen Lobes entbehren müssen, sondern auch viele Tadler finden. Denn nicht um über den Inhalt der Rede, sondern um über das Ansehen der Prediger zu richten, sitzen die Zuhörer da. Wer darum über alle anderen in der Beredsamkeit hervorragt, der muß auch am meisten unter allen angestrengten Fleiß aufwenden. Nicht einmal den Umstand, der doch gemeinhin der menschlichen Natur eigentümlich ist, daß ihr nicht alles gelingen kann, darf er sich zunutzen machen. Steht vielmehr seine Rede nicht vollständig im Einklang mit der Größe seines S. 215 Rufes, so ist sein Abtreten von vielfachem Spott und Tadel seitens der Menge begleitet. Und niemand erwägt bei sich, daß Verzagtheit und Angst, die ihn etwa befallen, desgleichen Sorgen, häufig auch eine starke Erregung die Klarheit des Denkens zu trüben vermögen und die Gedanken nicht zur vollen Entwicklung gelangen lassen, daß überhaupt ein Mensch unmöglich allerwegs derselbe zu sein und in allem das Richtige zu treffen vermag, daß es vielmehr ganz natürlich ist, wenn er sich einmal verhaut und Geringeres leistet, als seine eigentliche Begabung erwarten ließ. Auf nichts dergleichen will man, wie ich bereits erwähnte, Bedacht nehmen, sondern als ob man über einen Engel zu Gericht säße, bringt man die Beschuldigungen herbei. Übrigens ist auch der Mensch von Natur aus geneigt, die löblichen Taten seines Nächsten, mögen sie auch zahlreich und hervorragend sein, zu übersehen; zeigt sich aber irgendein kleiner Mangel, mag er auch als noch so geringfügig sich herausstellen und nur ganz selten vorkommen, so bemerkt man ihn sofort, fällt ohne weiteres darüber her und vergißt ihn nimmer. Und so hat schon häufig die unbedeutendste und geringfügigste Sache das Ansehen vieler und hervorragender Männer geschmälert.