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Œuvres Jean Chrysostome (344-407) In epistula ad Romanos commentarius Kommentar zum Briefe des hl. Paulus an die Römer (BKV)
FÜNFZEHNTE HOMILIE: Kap. VIII, V. 12—27.

9.

Merkst du dabei die genaue Wahl des Ausdruckes und wie er will, daß wir beständig erbarmungsvoll sein sollen? Er sagt nicht einfach: Seid erbarmungsvoll, sondern: „Ziehet an“, um auszudrücken, daß, wie das Kleid immer mit uns ist, es auch das Erbarmen sein soll. Er sagt nicht einfach „Erbarmen“, sondern „ein Herz des Erbarmens“, damit wir dadurch an das natürliche Organ des Erbarmens erinnert werden. — Aber wir tun das Gegenteil. Kommt einer und bettelt uns um einen Heller an, so fahren wir ihn hart an, schimpfen und nennen ihn einen Schwindler. Macht es dir denn keine Angst, Mensch, errötest du nicht, daß da dem Bettler statt Brot den Schimpfnamen eines Schwindlers gibst? Wenn ein solcher auch einen Schwindel verübte, so verdient er eben darum Mitleid, daß er durch Hunger gezwungen wird, sich auf solche Weise zu verstellen. Es liegt eben darin eine Anklage gegen unsere Hartherzigkeit. Denn eben darum, weil wir nicht leicht etwas hergeben, sind die Bettler gezwungen, tau- S. b208 senderlei Kniffe anzuwenden, um unsere Lieblosigkeit zu überlisten und unsere Hartherzigkeit zu erweichen. Wenn übrigens der Arme Gold oder Silber verlangte, so wäre dein Verdacht noch einigermaßen begründet. Da er dich aber nur um notdürftige Nahrung bittet, wozu solche unzeitige Bedenklichkeit, solch überflüssiges Gerede von Faulheit und Müßiggang? Sollen wirklich diese Worte fallen, dann müssen wir sie an uns, nicht an andere richten.

Wenn du also vor Gott hintrittst mit der Bitte um Vergebung der Sünden, so denk an solche Schmähworte und erkenne, daß du sie mit mehr Recht von Gott solltest zu hören bekommen als der Arme von dir. Und doch hat Gott dich noch niemals angefahren wie etwa: „Fort mit dir, denn du bist ein Schwindler! Du gehst zwar regelmäßig in die Kirche und hörst da meine Gebote, im öffentlichen Leben aber setzest du Gold und Menschenfreundschaft und Sinnenlust und alles andere über meine Gebote. Jetzt bist du zwar demütig, nach dem Gebete aber bist du unwirsch und hartherzig und lieblos. Hebe dich also weg von hier und komm mir nicht mehr unter die Augen!“ — Solche Reden und noch mehr derart verdienten wir zu hören. Und doch macht uns Gott nie dergleichen Vorwürfe, sondern er ist langmütig, er erfüllt uns unsere Bitten, soweit es an ihm liegt, ja er gibt uns mehr, als um was wir bitten. — Das laßt uns also bedenken und die Armut der Notleidenden lindern! Und wenn sie auch einmal eine Verstellung anwenden, laßt uns die Sache nicht gar so genau nehmen! Auch wir haben ja zu unserer Rettung gar viel Nachsicht und Menschenliebe und Erbarmung nötig. Ganz unmöglich, ganz unmöglich können wir einmal selig werden, wenn mit uns eine so genaue Prüfung vorgenommen werden sollte, sondern wir müßten notwendigerweise der Strafe überantwortet werden und ganz zugrunde gehen.

Seien also auch wir nicht so strenge Richter anderer, damit man nicht auch von uns strenge Rechenschaft fordere. Denn wir haben ja Sünden auf uns, die alle Verzeihung übersteigen. Laßt uns vielmehr barmherzig sein gegen die, welche (scheinbar) unverzeihliche Fehler S. b299 begehen, damit auch wir uns solches Erbarmen verdienen. Wenn wir andern auch noch so viel Liebe erweisen, niemals werden wir es zu einem so hohen Maße von Liebe bringen, als wir von dem liebevollen Gott erfahren. Ist es also nicht widersinnig, daß wir, die wir selbst so in Not stecken, mit unsern Mitknechten gar so genau abrechnen und gegen unsern eigenen Vorteil handeln? Denn damit erklärst du nicht so sehr ihn deiner Wohltat unwürdig, als du dich selbst der Liebe Gottes. Wer mit seinem Mitknechte so genau Abrechnung hält, der wird um so mehr eine solche von seiten Gottes erfahren. Laßt uns also nicht gegen uns selbst das Urteil sprechen, sondern laßt uns auch dann ein Almosen geben, wenn sie aus Faulheit und Leichtsinn betteln. Denn auch wir begehen ja viele — ja eigentlich alle — Sünden aus Leichtsinn, und Gott straft uns nicht immer gleich dafür, sondern gibt uns Zeit zur Buße. Er gibt uns das tägliche Brot, er unterweist, er belehrt uns und gewährt uns alles andere, damit wir uns an seiner Barmherzigkeit ein Beispiel nehmen.

Fort also mit dieser Hartherzigkeit, hinweg mit dieser Roheit! Dann tun wir uns selbst noch mehr etwas Gutes als andern. Denn ihnen schenken wir nur Geld und Brot und Kleidung, uns selbst aber erwerben wir damit die allergrößte Herrlichkeit, die sich mit Worten gar nicht schildern läßt. Denn wir werden unsterbliche Leiber erhalten und mit Christus verherrlicht werden und herrschen. Was das bedeutet, können wir schon hienieden erfahren, oder vielmehr so ganz deutlich werben wir das jetzt niemals erfahren. Damit wir aber durch Vergleich mit irdischem Glück eine schwache Vorstellung davon bekommen, so will ich es versuchen, so viel ich kann, das Gesagte durch ein Beispiel deutlich zu machen. Sag’ mir: Wenn du altersschwach und dürftig dahinlebtest und es verspräche dir jemand, dich auf einmal jung zu machen und zurückzuversetzen in die Blüte der Jugend, dich dazu noch stark und schon zu machen trotz allen und dir die Herrschaft über die ganze Erde auf tausend Jahre zu verleihen, eine Herrschaft voll tiefsten Friedens: was würdest du für eine solche Verheißung nicht alles tun und leiden? Nun sieh, S. b300 Christus verheißt dir nicht bloß dies, sondern noch viel mehr als das; denn der Unterschied zwischen Alter und Jugend ist nicht so groß wie der zwischen Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit; und der Unterschied zwischen einem königlichen Dasein und einem bettelarmen ist nicht so groß wie der zwischen der zukünftigen Herrlichkeit und der irdischen, sondern so groß wie der zwischen Traum und Wirklichkeit.

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