4.
Wenn dir nur einmal klar sein wird, was unter Abrahams Nachkommenschaft zu verstehen ist, dann wirst du auch die seiner Nachkommenschaft gegebene Verheißung verstehen und einsehen, daß Gottes Wort nicht unerfüllt geblieben ist. Sag’ also, was ist unter dieser Nachkommenschaft zu verstehen? Nicht ich gebe die Erklärung, sagt er, sondern das Alte Testament, wenn es dort heißt: „In Isaak wird dir Nachkommenschaft zuteil werden“ 1. Was heißt: „In Isaak“? Erkläre es!
V. 8: „Das heißt: Nicht die Kinder des Fleisches, die sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung, die werden als Nachkommenschaft verstanden.“
Beachte da den Scharfsinn und den hohen Standpunkt der Betrachtungsweise des Paulus! In seiner Erklärung sagt er nicht, daß nicht die Kinder des Fleisches Kinder Abrahams sind, sondern daß sie nicht „Kinder Gottes“ sind. Er stellt eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart her und zeigt, daß auch Isaak nicht ein Kind Abrahams schlechtweg war. Der Sinn seiner Worte ist der: Alle die, welche nach Art des Isaak (von Abraham) abstammen, die sind Kinder Gottes und zugleich Nachkommen Abrahams. Denn deswegen hat Gott gesagt: „In Isaak wird dir Nachkommenschaft zuteil werden.“ Du sollst daraus ersehen, daß nur die, welche in derselben Weise Abraham zum Vater haben wie Isaak, im eigentlichen Sinne die Nachkommenschaft Abrahams sind. Wie hatte nun Isaak den Abraham zum Vater? Nicht nach dem Gesetze der Natur, nicht infolge der Zeugungskraft des Abraham, sondern kraft der Verheißung Gottes. Was heißt: „Kraft der Verheißung Gottes“?
V. 9: („Die Worte der Verheißung sind diese:) Um diese Zeit werde ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben“ 2
. S. d30 Diese Verheißung aus dem Munde Gottes war es, die Isaak Sein und Leben gab. Aber die weiblichen Gebärorgane wirkten doch auch mit? Ja, aber nicht ihre Lebenskraft, sondern die Kraft der Verheißung Gottes brachte das Kind zur Welt. — In derselben Weise sind auch wir (wieder) geboren worden durch das Wort Gottes. Auch im Taufbade ist die zeugende und gebärende Kraft das Wort Gottes; denn „im Namen des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes“ sind wir getauft worden. Das ist eine Geburt nicht nach den Gesetzen der Natur, sondern kraft der Verheißung Gottes. Ebenso wie er die Geburt des Isaak vorausverkündigte und sie dann erst geschehen ließ, hat er auch unsere (Wieder-) Geburt durch alle Propheten lange Zeit voraus angekündigt und sie dann erst verwirklicht. Siehst du da, wie groß sich Gott gezeigt hat und wie er seine großen Verheißungen mit aller Leichtigkeit hat in Erfüllung gehen lassen?
Wenn aber die Juden behaupten sollten, jenes: „In Isaak wird dir Nachkommenschaft zuteil werden“ besage, daß alle, die von Isaak abstammen, zur Nachkommenschaft Abrahams gerechnet werden, so würde daraus folgen, daß auch die Idumäer und alle anderen Abkömmlinge Abrahams als seine Söhne gelten mußten; denn ihr Stammvater Esau war ein Sohn des Isaak. Nun gelten aber die Idumäer nicht nur nicht als Abrahams Kinder, sondern sie sind ein ihm ganz und gar fernstehendes Volk. Siehst du, daß nicht die Kinder, die dem Fleische nach von Abraham abstammen, deswegen schon Kinder Gottes sind, und daß durch die Art der natürlichen Abstammung (der wahren Kinder Abrahams) die Wiedergeburt durch die Taufe vorgebildet war? Was dort das natürliche Gebärorgan, ist hier das Wasser. Aber wie hier alles eine Wirkung des Hl. Geistes ist, so dort alles eine solche der Verheißung. Kälter als Wasser war das mütterliche Gebärorgan der Sara infolge der Unfruchtbarkeit und des Alters. — Führen wir was also den hohen Adel unserer Abstammung recht zu Gemüte, und erweisen wir uns seiner würdig durch unser Leben! Nichts Fleischliches, nichts Irdisches hat daran teil. Also wollen auch wir nichts dergleichen an S. d31 uns tragen. Denn weder Beischlaf noch fleischliche Begierde noch Umarmung noch Sinnenlust, sondern einzig: die Liebe Gottes war die wirkende Ursache dieser unserer Wiedergeburt. Wie dort im hoffnungslosen Alter der Sara, so tritt hier im eingetretenen Greisenalter der Sünde der neue Isaak zutage, und alle sind wir Kinder Gottes und Nachkommenschaft Abrahams geworden.
V. 10: „Aber nicht allein sie (die Sara), sondern auch die Rebekka (empfing die Verheißung), die allein von Isaak, unserem Vater, Kinder hatte.“
— Schwer und umstritten war die Frage, die der Apostel hier aufrollt. Darum erörtert er sie nach mehreren Richtungen hin und sucht von allen Seiten die auftauchenden Bedenken zu lösen. Denn wenn es etwas Unbegreifliches und Unerwartetes war, daß die Juden nach den so großen Verheißungen, die ihnen gemacht worden waren, leer ausgingen, so ist es noch viel unbegreiflicher, daß wir in den Besitz ihrer Güter eingetreten sind, die wir nie dergleichen erwartet hatten. Es ist dasselbe, wie wenn ein königlicher Prinz, dem der Thron seines Vaters verheißen ist, unter das gewöhnliche Volk zurückgestoßen würde und an seiner Stelle ein verurteilter Schwerverbrecher, den man aus dem Gefängnisse geholt hat, den Thron erhielte, der jenem gebührt. Wie willst du so etwas rechtfertigen? fragt man. Damit, daß der Sohn des Thrones unwürdig war? Aber der andere ist es auch und noch viel mehr. Also sollten sie entweder beide bestraft oder beide ausgezeichnet werden. Ebenso liegt der Fall mit den Heiden und den Juden, ja, noch viel widerspruchsvoller. Daß sie alle unwürdig waren, hat der Apostel oben zum Ausdruck gebracht, wo er sagte: „Alle haben gesündigt und entbehren des Ruhmes vor Gott“ 3. Das Merkwürdige dabei ist aber, daß, obzwar alle unwürdig waren, nur gerade die Heiden das Heil erlangten. Nebstdem könnte man ein anderes Bedenken aufwerfen und sagen: Wenn Gott seine Verheißungen den Juden gegenüber nicht erfüllen wollte, warum hat er sie ihnen gemacht? Menschen, die nicht S. d32 in die Zukunft schauen können, lassen sich ja oft täuschen und verheißen solchen Geschenke, die sich nachher als unwürdig erweisen. Gott jedoch, der die Gegenwart und die Zukunft voraussieht, wußte ganz genau im voraus, daß die Juden sich seiner Versprechungen unwürdig machen und darum das Versprochene nicht erhalten würden; warum hat er ihnen also überhaupt etwas versprochen?