2.
Aber so sprich uns doch, Paulus, von der andern Gerechtigkeit, von der Gerechtigkeit, die ein Geschenk der Gnade ist! Was ist diese Gerechtigkeit und wie kommt sie zustande? — So vernimm denn, wie er dieselbe ausführlich beschreibt. Nachdem er jene andere abgetan hat, geht er im folgenden zu dieser über und sagt:
V. 6: „Die Gerechtigkeit aber, die aus dem Glauben kommt, sagt also: Sage nicht in deinem Herzen: Wer wird in den Himmel hinaufsteigen? nämlich um Christus herabzuholen“;
V. 7: „oder wer wird in die Unterwelt hinabsteigen? nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen“; S. d58
V. 8: „sondern was sagt (die Schrift)? ‚Nahe ist dir das Wort in deinem Munde und in deinem Herzen’ nämlich das Wort des Glaubens, das wir verkünden“:
V. 9: „daß, wenn du bekennst mit deinem Munde den Herrn Jesus and glaubst in deinem Herzen, daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig werden.“
Damit nämlich die Juden nicht sagen könnten: Wie sollen die eine höhere Gerechtigkeit erreichen, welche eine mindere nicht zu erreichen vermochten? führt der Apostel einen unwiderleglichen Grund an: Der erstere Weg ist leichter als der andere. Dieser verlangt Erfüllung sämtlicher Gebote; denn (es heißt): „Wenn du alles erfüllst, wirst du leben.“ Die Glaubensgerechtigkeit dagegen spricht nicht so, sondern wie? „Wenn du bekennst mit deinem Munde den Herrn Jesus und glaubst in deinem Herzen, daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig werden.“ — Weiter, damit es nicht den Anschein habe, als setze er die Glaubensgerechtigkeit herab, indem er sie als leicht und mühelos erreichbar hinstellt, beachte, wie er die Rede über sie dreht. Er kommt nicht sogleich auf den Satz, den wir soeben angeführt haben, sondern was sagt er (vorher)? „Die Gerechtigkeit aber, die aus dem Glauben kommt, sagt also: Sag nicht in deinem Herzen: Wer wird in den Himmel hinaufsteigen? nämlich um Christus herabzuholen; oder wer wird in die Unterwelt hinabsteigen? nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen.“ Der Tugend, die von den Werken kommt, steht die Trägheit entgegen, welche die Mühen scheut, und es bedarf eines gar wachsamen Sinnes, um ihr nicht nachzugeben. In ähnlicher Weise stehen dem Glauben die Bedenklichkeiten der Vernunft entgegen; sie verwirren und verdunkeln den Sinn vieler, und es bedarf eines jugendlich kräftigen Geistes, um mit ihnen aufzuräumen. Darum führt der Apostel auch einige solche Bedenklichkeiten an. Und wie er bei Abraham verfahren ist, so verfährt er auch hier. Nachdem er nämlich dort gezeigt hat, daß Abraham durch den Glauben gerechtfertigt worden sei, ergeht er sich in hohen Worten über das, S. d59 was der Glaube ist, damit man nicht meine, Abraham habe eine so große Auszeichnung ohne eigene Arbeit nur so bekommen, und daß deshalb wohl nichts daran sein müsse. Er sagt: „Abraham glaubte wider die Hoffnung an die Hoffnung, daß er Vater vieler Völker werden würde, und er ward nicht schwach im Glauben; er dachte weder an seinen erstorbenen Leib noch an den erstorbenen Schoß der Sara. An der Verheißung Gottes zweifelte er nicht mißtrauisch, indem er Gott die Ehre gab, ganz und gar überzeugt, daß dieser das, was er verheißen, auch zu erfüllen imstande sei“ 1. Der Apostel wollte damit zeigen, daß Stärke und ein hochgemuter Sinn dazu gehöre, etwas anzunehmen, was über jede menschliche Hoffnung hinausliegt, und sich an dem Augenfälligen nicht zu stoßen. So verfährt er auch hier. Er zeigt, daß die Einsicht eines Weisen vonnöten sei und ein großzügiges, gewissermaßen bis zum Himmel reichendes Urteil. — Auch heißt es nicht einfach: "Sage nicht“, sondern: „Sage nicht in deinem Herzen!“ D. h. laß es dir nicht beifallen, zu zweifeln und auch nur bei dir zu sagen: Wie ist das möglich? Siehst du, daß gerade das dem Glauben eigen ist, das Übernatürliche in den Dingen zu suchen und dabei das Vernünfteln zu lassen, das schwache menschliche Denken beiseite zu setzen und alles von der Allmacht Gottes zu erwarten? Doch nicht bloß das behaupteten die Juden (nämlich daß die Glaubensgerechtigkeit zu leicht zu erlangen sei), sondern daß es unmöglich sei, durch den Glauben gerechtfertigt zu werden. Der Apostel handelt darum von der Tatsache, die dem Glauben zugrunde liegt. Um den Gläubigen einen Ruhmeskranz winden zu können, zeigt er, daß sie etwas so Großes sei, daß sie auch, nachdem sie geschehen sei, doch Glauben erheische. Er gebraucht dabei Redewendungen, die im Alten Testament vorkommen, immer bemüht wie er ist, Neuerungen zu vermeiden und dem Vorwurf zu entgehen, daß er das Alte Testament bekämpfe. Das, was er hier vom Glauben sagt, sagt nämlich Moses von den Geboten des Alten Bundes, indem er zeigt, daß die S. d60 Israeliten durch sie eine größere Wohltat von Seiten Gottes genossen hätten. Man kann nicht einwenden, sagt Moses, daß man in den Himmel hinaufsteigen und das Meer durchsegeln müsse, um die Gebote zu bekommen. Aber auch uns hat Gott das Große und Hohe, das er uns geschenkt hat, leicht gemacht. Was heißt das: „Nahe ist dir das Wort“? Es heißt soviel als: es ist leicht. Denn in deinen Gedanken und auf deiner Zunge liegt dein Heil. Um selig zu werden, brauchst du nicht einen weiten Weg zu machen, nicht das Meer zu durchsegeln, nicht Berge zu übersteigen. Wenn du auch nicht einmal deine Schwelle überschreiten magst, so kannst du auch daheim sitzend selig werden; denn die Quelle deines Heils liegt in deinem Munde und in deinem Herzen.
Dann stellt der Apostel noch von einer andern Seite her den Glauben als etwas Leichtes dar. Er sagt: „Gott hat ihn (Christus) von den Toten auf erweckt.“ Bedenke die Hoheit dessen, der die Tatsache der Auferstehung bewirkt hat, und du wirst in dieser selbst keine Schwierigkeit mehr erblicken. Daß also Christus der Herr ist, wird durch seine Auferstehung offenbar. Auch am Anfang des Briefes heißt es ja: „Der durch die Auferstehung von den Toten als Gottes Sohn bestätigt wurde“ 2. Daß auch die Auferstehung etwas Leichtes sei, wird aus der Macht dessen, der sie bewirkt, auch solchen klar, die recht schwergläubig sind. — Wenn also die Gerechtigkeit (aus dem Glauben) die höhere ist, wenn sie leicht und mühelos zu haben ist, wenn man auf keine andere Weise gerechtfertigt werden kann, ist es da nicht der höchste Grad von Eigensinn, wenn man nach dem Unmöglichen die Hand ausstreckt, das Leichte und Mühelose dagegen beiseite läßt? Dann können die Juden doch wohl nicht sagen, daß sie die Sache als zu schwer liegen gelassen hätten.