2.
Nachdem der Apostel gezeigt hat, daß man den Propheten immer glauben müsse, die ja im Auftrage Gottes sprechen, und daß dazu nichts weiter erforderlich sei als das Anhören, setzt er die Kette von Einwänden, von der ich oben sprach, weiter fort, indem er sagt:
V. 18: „Aber sage ich: Haben sie etwa nicht gehört?“
— Aber wie, will der Apostel sagen, wenn zwar Prediger geschickt wurden und auch verkündeten, was ihnen aufgetragen war, wenn sie aber die Juden nicht hörten? Er löst sofort den Einwand mit einer gewissen Übertreibung:
„Aber ja; ging ja doch der Schall ihrer Stimme über die ganze Erde, und bis ans Ende des Erdkreises erschollen ihre Aussprüche.“ — Was sagst du? will der Apostel sagen; sie haben es nicht gehört? Die ganze Erde und die Enden des Erdkreises haben es gehört, und ihr, bei denen die Prediger (der Heilsbotschaft) so lange Zeit zubrachten, ihr, aus deren Mitte sie ausgingen, ihr habt es nicht gehört? Was hätte ein solcher Einwand für einen Sinn? Wenn es die S. d75 Enden des Erdkreises gehört haben, um so mehr doch wohl ihr. — Dann kommt wieder ein anderer Einwand:
V. 19: „Aber soll ich sagen: Israel hat nicht verstanden?“
— Wie aber, will der Apostel sagen, wenn sie zwar gehört, aber das Gesagte nicht verstanden, vielleicht nicht einmal gewußt haben, daß die Apostel wirklich von Gott gesandt waren? Verdienen sie dieser Unwissenheit wegen keine Verzeihung? — Nein! Hat sie ja doch bereits Jesaias gekennzeichnet, wenn er spricht: „Wie willkommen die Füße derer, die den Frieden verkünden!“ Ja, vor ihm sogar die Gesetzgeber des Alten Bundes. Darum heißt es weiter:
„Schon Moses sagte es zuerst: Ich will euch eifersüchtig machen auf ein Nichtvolk; durch ein ganz unwissendes Volk will ich euch zum Zorne reizen“ 1
.— Also auch daran konnte man die Prediger des Evangeliums als solche erkennen; nicht bloß daran, daß die Juden ihnen nicht glaubten, nicht bloß daran, daß sie eine Friedensbotschaft brachten und jenes Heil verkündeten, nicht bloß daran, daß ihr Wort sich über den ganzen Erdkreis verbreitete, sondern auch daran, daß sie die Heiden, die früher tief unter ihnen standen, jetzt auf einmal über sie hinaus auf eine höhere Ehrenstufe emporgehoben sahen. Was weder sie noch ihre Voreltern jemals zu hören bekommen hatten, das bekamen jetzt auf einmal die Heiden zu wissen. Diese höhere Ehrung der Heiden mußte die Juden eifersüchtig machen, sie in den Harnisch bringen und sie an die Weissagung des Moses erinnern, der da gesagt hatte: „Ich werde sie eifersüchtig machen auf ein Nichtvolk.“ Aber nicht bloß die Größe der Ehre, welcher die Heiden gewürdigt wurden, mußte die Juden in den Harnisch bringen, sondern auch der Umstand, daß dieses Volk, welches jetzt eine solche Auszeichnung genoß, früher so unansehnlich gewesen war, daß es nicht einmal den Namen eines Volkes verdient hatte. „Ich will euch S. d76 eifersüchtig machen auf ein Nichtvolk, durch ein ganz, unwissendes Volk will ich euch zum Zorne reizen.“ Denn was war unwissender als die Heiden? Was unansehnlicher (in den Augen der Juden)?
Siehst du, wie Gott den Juden auf jede Weise im voraus deutliche Erkennungszeichen und Merkmale gegeben hatte, an denen sie die Zeit erkennen konnten, um so ihre Blindheit zu erleuchten? Denn das alles trug sich ja nicht in irgendeinem versteckten Erdenwinkel zu, sondern angesichts der ganzen Welt, zu Wasser und zu Lande; Leute, die früher von den Juden verachtet worden waren, sahen diese nun im Besitze ungemessener Güter. Sie mußten daher doch wohl daran denken, daß dies jenes Volk sein könne, von dem Moses gesagt hatte: „Ich werde euch eifersüchtig machen auf ein Nichtvolk; durch ein ganz unwissendes Volk will ich euch zum Zorne reizen.“ Hatte aber Moses allein dies gesagt? Keineswegs, sondern auch Jesaias nach ihm; darum sagt Paulus auch: „Moses zuerst.“ Damit deutet er an, daß ein zweiter kommen werde, der dasselbe noch ausdrücklicher und deutlicher sagen werde. Wie er oben gesagt hat: „Jesaias ruft“, so hier:
V. 20: „Jesaias aber nimmt sich den Mut und spricht.“
— Der Sinn dieses Satzes ist dieser: Er tut sich Gewalt an, er bemüht sich nicht dunkel zu sprechen, sondern auch ganz unverhüllt die Tatsachen vor Augen zu stellen; er will lieber eine Gefahr auf sich nehmen, die ihm aus seiner unverblümten Sprechweise erwachsen konnte, als, auf sein eigenes Heil bedacht, euch auch nur einen Schatten von Entschuldigung für eure Undankbarkeit zu lassen. Es lag eigentlich gar nicht in der Natur einer Weissagung, so klar zu sprechen; aber er wollte euch vollständig den Mund stopfen; darum hat er alles ganz deutlich vorausgesagt „Alles“? Was ist darunter zu verstehen? Eure Verwerfung und die Aufnahme der andern. Er sagt:
„Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten; ich wurde offenbar denen, die nicht nach mir fragten.“
— Wer sind denn die, welche ihn nicht suchten? Wer die, welche nicht nach ihm fragten? Offenbar nicht die S. d77 Juden, sondern die Heiden, die ihn nicht kannten. Wie sie Moses gekennzeichnet hat, wenn er sie „ein Nichtvolk“, ein „ganz unwissendes Volk“ nannte, so macht sie hier Jesaias durch dasselbe Merkmal kenntlich, nämlich ihre hochgradige Unwissenheit (von Gott). Das war die schwerste Anklage der Juden, daß solche, die Gott nicht gesucht, ihn gefunden, dagegen sie, die ihn gesucht, verloren hatten.
V. 21: „Zu Israel dagegen spricht er: Den ganzen Tag streckte ich meine Hände hin zu einem Volke, das sich nichts sagen läßt und widerspenstig ist.“
— Siehst du, wie jener scheinbar widersinnige und von vielen angezweifelte Satz sich bereits lange vorher in den Reden der Propheten deutlich ausgesprochen findet? Welcher Satz ist das? Nun, du hast ja oben Paulus sagen hören: „Daß die Heiden, die nicht der Gerechtigkeit nachstrebten, Gerechtigkeit empfingen, Gerechtigkeit aber aus dem Glauben; Israel dagegen, welches durch das Gesetz der Gerechtigkeit gerecht werden wollte, nicht zum Gesetz der Gerechtigkeit gelangte.“ Dasselbe spricht an dieser Stelle Jesaias aus. Denn wenn er spricht: „Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten, und ich wurde offenbar denen, die nicht nach mir fragten“, so ist das gleichbedeutend mit jenem andern Worte von den Heiden, die nicht der Gerechtigkeit nachjagten und sie doch empfingen. Dann gibt er zu verstehen, daß dies nicht durch die Gnade Gottes allein so geschehen sei, sondern auch durch die freie Willensentscheidung derer, die zu Gott gekommen seien, wie andererseits die Verwerfung der Juden eine Folge ihres Eigensinns und ihrer Widerspenstigkeit gewesen sei. Höre, wie er fortfährt: „Zu Israel dagegen spricht er: ‚Den ganzen Tag streckte ich meine Hände hin zu einem Volke, das sich nichts sagen läßt und widerspenstig ist.’“ Unter „Tag“ ist die ganze Zeit vorher zu verstehen. Das Hinstrecken der Hände bedeutet das Rufen, das Versuchen, sie an sich zu ziehen, das Ermahnen. Schließlich nennt er sie, um auszudrücken, daß die Schuld an ihnen liege, „ein Volk, das sich nichts sagen läßt und widerspenstig ist“. S. d78
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Vgl. 5 Mos. 32, 21. ↩