4.
Damit nämlich niemand einwende: Bist denn du schon das Volk? Und ist denn das Volk erwählt worden, wenn du erwählt worden bist? Darum fährt der Apostel fort: S. d81 V. 2: „Nicht verstoßen hat Gott das Volk, welches er voraus erkannt hatte.“
— Wie wenn er sagen wollte: „Ich habe neben mir dreitausend und fünftausend und zehntausend.“ Doch wie? Ist das das Volk? Besteht denn bloß aus dreitausend oder fünftausend oder zehntausend jene Nachkommenschaft (des Abraham), die an Zahl den Sternen am Himmel und dem Sand am Meere gleichkam? Und willst du uns so hintergehen und täuschen, daß du dich und die paar Leute um dich dem ganzen Volke gleichstellst? Blähst du uns nicht mit leeren Hoffnungen auf, indem du behauptest, die (alttestamentliche) Heilsbotschaft habe sich darin erfüllt, daß alle zugrunde gehen und nur einige wenige zum Heil gelangen? Das ist doch nur Schwindel und Aufschneiderei; solchen Trugkünsten dürften wir wohl kaum aufsitzen. Damit man also nicht so spreche, sieh, wie er im folgenden die Lösung dieses Einwandes bringt, ohne den Einwand selbst auszusprechen; vor dem Einwände bringt er die Lösung desselben, und zwar aus dem Alten Testament. Wie lautet diese Lösung?
„Wißt ihr nicht, was die Schrift sagt (in der Geschichte) von Elias? Wie er eine Beschwerde bei Gott vortrug gegen Israel?“
V. 3: „Herr, deine Propheten haben sie ermordet, deine Altäre umgestürzt; ich bin der einzige, der übrig geblieben ist, und nun trachten sie auch mir nach dem Leben.“
V. 4: „Aber wie lautet der Bescheid, der ihm zuging? Ich habe mir siebentausend Männer aufgespart, die dem Baal nicht das Knie gebeugt haben.“
V. 5: „So ist auch in der Jetztzeit ein Reststamm geblieben zufolge der Gnadenwahl.“
— Der Sinn dieser Stelle ist folgender: Gott hat das Volk (der Juden) nicht verstoßen; denn wenn er es verstoßen hätte, dann hätte er keinen aufgenommen; wenn er aber auch einige wenige aufgenommen hat, so hat er es nicht verstoßen. Ja aber, wendest du ein, wenn er es nicht verstoßen hat, so mußte er doch alle aufnehmen, S. d82 Ganz und gar nicht. Denn auch zu den Zeiten des Elias bestand die Zahl der Geretteten nur aus siebentausend. Jetzt sind derer, die den Glauben angenommen haben, sicherlich viele. Wenn ihr es nicht wißt, so ist es nicht zu wundern; wußte es ja auch jener Prophet, ein so großer und so geistvoller Mann, nicht. Gott aber traf seine Vorkehrungen, wenn es auch der Prophet nicht wußte. — Beachte da die Feinheit, mit welcher der Apostel bei dieser Beweisführung die Anklage gegen die Juden versteckterweise verschärft! Jene Schriftstelle hat er nur darum ganz angeführt, um die Undankbarkeit der Juden an den Pranger zu stellen und auszudrücken, daß sie schon früher so undankbar gewesen seien. Denn hätte er das nicht gewollt, sondern einzig und allein die Absicht gehabt, zu zeigen, daß unter den wenigen das ganze Volk zu verstehen sei, so hätte er gesagt, daß auch zur Zeit des Elias siebentausend aufgespart worden seien. Nun führt er aber oben die Stelle ganz an. Er bestrebt sich nämlich, darzutun, daß das, was die Juden Christus und den Aposteln angetan haben, nichts Neues, sondern etwas Altgewohntes und längst Geübtes gewesen sei. Damit sie nämlich nicht sagen könnten: Christus haben wir als einen Verführer getötet und die Apostel als Betrüger verfolgt, darum hält ihnen Paulus diese Schriftstelle vor, in der es heißt: „Herr, deine Propheten haben sie ermordet und deine Altäre umgestürzt.“ Um aber seiner Rede das Verletzende zu nehmen, schützt er einen anderen Grund vor, warum er diese Schriftstelle angeführt habe. Nicht wie um sie anzuklagen, führt er sie an, sondern scheinbar mit dem Bestreben, etwas anderes zu beweisen. Dabei benimmt er ihnen auch von ihrem früheren Benehmen her jeden Entschuldigungsgrund. Beachte nur, wie schwerwiegend die Anklage auch durch die Person des Anklägers wird! Denn nicht Paulus ist es, auch nicht Petrus oder Jakobus oder Johannes, sondern der Mann, welcher von ihnen am meisten bewundert wurde, das Haupt der Propheten, der Gottesfreund, der von solchem Eifer für sie erfüllt war, daß er sich dem Hunger preisgab, der Mann, welcher bis auf den heutigen Tag noch nicht gestorben ist. Was also sagt der? „Herr, deine Propheten haben S. d83 sie ermordet, deine Altäre umgestürzt; ich bin der einzige, der übrig geblieben ist, und nun trachten sie auch mir nach dem Leben.“ Was geht über solch tierische Roheit? Die Juden hätten um Gnade bitten sollen wegen der früheren Verfehlungen, statt dessen aber wollten sie auch ihn töten. Ein solches Benehmen nimmt ihnen doch wohl jedes Recht auf Nachsicht. Denn nicht zur Zeit der Hungersnot, sondern als die Fruchtbarkeit wieder zurückgekehrt, die Schmach ausgetilgt, die Dämonen beschämt, die Macht Gottes offenkundig geworden und der König unterworfen war, da erkühnten sie sich, solche Greuel zu begehen, von Mord zu Mord zu schreiten, ihre Lehrer und die, welche ihre Sinnesart bessern wollten, aus dem Wege zu räumen. Was können sie wohl zur Entschuldigung dafür anführen? Waren auch jene Propheten Verführer? Waren auch sie Betrüger? Wußten sie auch von ihnen nicht, woher sie waren? (Wollt ihr euch damit entschuldigen), daß sie euch gekränkt haben? Aber sie haben euch doch auch Wohltuendes gesagt. Und dann, was ist’s mit den Altären? Haben euch auch die Altäre gekränkt? Haben auch sie euch zum Zorne gereizt? Siehst du da, was für einen Eigensinn, was für eine frevelhafte Gesinnung sie jederzeit an den Tag gelegt haben? Darum sagt Paulus dasselbe an einer andern Stelle, wo er an die Thessalonicher schreibt: „Dasselbe habt ihr von euren Stammesgenossen erlitten wie auch jene von den Juden; diese haben ja den Herrn (Jesus) getötet und die Propheten; auch uns haben sie in gleicher Weise verfolgt; sie sind Gott mißfällig und allen Menschen feindselig“ 1. Dasselbe sagt er auch hier: daß sie die Altäre umgestürzt und die Propheten ermordet haben. — Aber wie lautet der Bescheid, der ihm zuging? „Ich habe mir siebentausend Männer aufgespart, die dem Baal nicht das Knie gebeugt haben.“ Aber was hat diese Schriftstelle für einen Bezug auf unsere Frage? Einen sehr engen. Es wird nämlich durch sie dargetan, daß Gott immer nur die zu retten pflegt, welche dessen würdig sind, wenn die Verheißung auch an das ganze Volk S. d84 ergangen ist. Dasselbe bringt der Apostel auch oben zum Ausdruck, wo er sagt: „Wenn die Zahl der Söhne Israels auch wäre wie der Sand am Meere, so wird doch nur ein Reststamm gerettet werden“, und: „Wenn nicht der Herr Gott Sabaoth uns einen Samen gelassen hätte so wäre es uns ergangen wie Sodoma.“ Dasselbe bringt er auch hier zum Ausdruck. Darum heißt es weiter: „So ist auch in der Jetztzeit ein Reststamm geblieben zufolge der Gnadenwahl.“ Beachte, wie in dem Worte „Gnadenwahl“ jeder Teil seine besondere Bedeutung hat; es ist darin einerseits die Gnade Gottes, andererseits die gute Gesinnung derer, die zum Heil gelangt sind, ausgedrückt. Durch das Wort „Wahl“ bringt der Apostel das eigene Dazutun jener zum Ausdruck, durch das Wort „Gnaden-“ das Geschenk Gottes.
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1 Thess. 2, 14 und 15. ↩