6.
Ja, viel erhabener als der Himmel ist der Mensch; er kann eine Seele besitzen, die leuchtender ist an Schönheit als dieser. Der Himmel hat nicht sonderlich viel Überzeugungskraft bewiesen, obgleich er schon so lange im Angesicht (der Menschheit) steht. Paulus dagegen zog die ganze Menschheit an sich, wiewohl er nur kurze Zeit predigte. Er hatte nämlich eine Seele, die dem Himmel (an Schönheit) nichts nachgab und die Kraft besaß, alle an sich zu ziehen. Unsere Seele freilich kommt (an Schönheit) nicht einmal der Erde gleich; die seine dagegen übertraf den Himmel. Denn der Lauf des Himmels vollzieht sich stets innerhalb seiner natürlichen Grenzen und nach einem feststehenden Gesetze. Des Apostels große Seele dagegen steigt hinaus über alle Himmel und pflegt vertrauten Verkehr mit Christus selbst. Die Schönheit dieser Seele war so groß, daß Gott selbst sie rühmte. Die Gestirne priesen, als sie geschaffen waren, voll Bewunderung die Engel, den Apostel aber pries Gott selbst, indem er von ihm sagte; „Ein auserwählt Werkzeug ist mir dieser geworden“ 1. Den Himmel trübt oft eine Wolke; die Seele des Paulus dagegen konnte keine Versuchung trüben; in den Stürmen (des Lebens) strahlte sie leuchtender als die Mittagssonne und war gerade so hell wie vor dem Aufziehen der Wetterwolken. Die Sonne, die in ihm leuchtete, sandte Strahlen aus, die kein Wetter der Versuchung verdunkeln konnte, sondern gerade dann glänzten sie am hellsten. Daher heißt es von ihm: „Es genügt dir meine Gnade; denn meine Kraft ist am wirksamsten in Schwachheit“ 2.
Dem Apostel laßt uns also nacheifern! Dann wird, sofern wir nur wollen, der Himmel keinen Vergleich aushalten mit uns, auch die Sonne nicht und das ganze S. d88 Weltall nicht. Denn diese Dinge sind unsertwegen da, nicht wir ihretwegen. Zeigen wir, daß wir es wert sind, daß diese Dinge unseretwegen erschaffen worden sind! Erweisen wir uns dieser unwert, wie werden wir da erst des himmlischen Reiches wert sein? Denn wenn alle, die ein gotteslästerliches Leben führen, unwert sind, zur Sonne aufzublicken, so sind solche, die ihn lästern, nicht wert, daß sie sich der Schöpfung erfreuen, die ihn verherrlicht. So ist ja auch ein Sohn, der seinen Vater beschimpft, nicht wert, den Dienst von Sklaven zu genießen, die es mit dem Vater wohl meinen. Darum werden diese Werke Gottes herrlich verklärt werden, wir aber werden der rächenden Strafe verfallen. Was für ein Unglück wäre es, wenn die Schöpfung, die unseretwegen da ist, zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes umgestaltet würde, und wenn wir dagegen, die Kinder Gottes, derentwegen die Schöpfung jenes glücklichen Zustandes teilhaftig werden wird, in das Verderben der Hölle geschickt würden! Damit das nicht geschehe, laßt uns, die wir eine reine Seele besitzen, sie so rein, wie sie ist, bewahren, ja, ihren Glanz noch erhöhen! Wir wollen aber auch nicht verzweifeln, wenn manche sie beschmutzt haben sollten. Denn es heißt ja: „Wenn eure Sünden sind wie Scharlach, so will ich sie weiß machen wie Schnee; und wenn sie sind rot wie Purpur, so will ich sie weiß machen wie Wolle“ 3. Wenn aber Gott etwas verheißt, so zweifle nicht daran, sondern tue nur das, wodurch du der Verheißung teilhaftig werden kannst. Du hast unzählige schwere Sünden begangen? Was ist dazu zu sagen? Noch bist du nicht in der Hölle, aus der es keine Erlösung gibt. Das Schauspiel (deines Lebens) ist noch nicht zu Ende, sondern du stehst noch auf dem Kampfplatz und kannst durch den letzten Waffengang alle früheren Niederlagen wettmachen. Noch bist du nicht dort, wo der Reiche, daß du zu hören bekommst: „Eine Kluft liegt zwischen uns und euch“ 4. Noch ist der Bräutigam nicht da, so daß jemand sich fürchtete, dir von seinem Öle zu geben. Du S. d89 kannst es noch kaufen und aufheben. Noch sagt niemand zu dir: „Nein, es könnte sonst nicht reichen für uns und für euch“ 5, sondern es gibt der Verkäufer viele; die Nackten, die Hungernden, die Kranken, die Gefangenen. Speise die einen, bekleide die andern, besuche die dritten, und reicher wie aus jeder Quelle wird das Öl dir zufließen! Noch ist der Tag der Rechenschaft nicht da. Nütze darum die Zeit noch recht aus, und mindere deine Schulden! Sprich zu dem, der dir hundert Tonnen Öl schuldet: „Nimm deinen Schuldschein und schreibe fünfzig!“ 6 Ahme den Verwalter (des Evangeliums) nach und mach es so mit dem Gelde (das man dir schuldet) und mit den üblen Nachreden gegen dich! Dazu ermuntere dich und deine Angehörigen! Noch hast du es in deiner Macht, so zu sprechen, noch hast du nicht nötig, andere darum anzugehen, sondern du hast noch die Möglichkeit, dir und andern diesen guten Rat zu geben. Bist du aber einmal hinüber ins Jenseits gekommen, dann kannst du nichts mehr tun von all dem. Und das ganz mit Recht; denn wenn du so viel Gelegenheit gehabt und weder für dein noch eines andern Wohl gesorgt hast, wie sollst du erst einer solchen Gnade teilhaftig werden können, wenn du vor dem Richter stehst? Das alles zusammen laßt uns also erwägen und ernstlich auf unser Seelenheil bedacht sein! Wollen wir die gute Gelegenheit, die uns das gegenwärtige Leben bietet, nicht ungenützt vorbeigehen lassen! Es ist möglich, ja, es ist möglich, noch in den letzten Zügen Gottes Wohlgefallen zu erwerben; es ist möglich, noch durch das Testament sich bei ihm in Gunst zu setzen, wenn auch nicht so leicht wie bei Lebzeiten, aber möglich ist es doch. Wie und auf welche Weise? Wenn du Christus unter deine Erben aufnimmst und ihm einen Teil deiner Habe vermachst. Du hast ihn im Leben nicht gespeist? So gib ihm etwas von deinem Vermögen bei deinem Hinscheiden, wo du ja so nicht mehr Herr darüber sein kannst. Er ist ja so gütig; er wird es mit dir nicht so genau nehmen. Ein Zeichen größerer Liebe S. d90 freilich ist es, und mehr Lohn verdient es, wenn du ihn bei Lebzeiten speisest. Hast du ihm das nicht getan, so tue ihm wenigstens das andere: Mach ihn zu deinem Erben zugleich mit deinen Kindern! Fällt dir aber auch das noch schwer, so bedenke, daß sein Vater dich zu seinem Miterben gemacht hat, und laß deinen harten Sinn fahren! Denn was wirst du für eine Entschuldigung haben, wenn du den nicht zum gemeinsamen Erben mit deinen Kindern machst, der dich mit ihm zum gemeinsamen Erben des Himmels gemacht und sich für dich geopfert hat? Und dabei hat er alles, was er für dich getan hat, nicht aus Schuldigkeit gegen dich getan, sondern er hat dir nur einen Beweis seiner Gnade erweisen wollen. Du aber bist nach so vielen Wohltaten sein Schuldner geworden. Und trotzdem nimmt er das, was du ihm gibst, als eine Gnade von dir in Empfang; er verlangt es nicht als Schuldigkeit und krönt dich dafür; er will das von dir in Empfang nehmen, was eigentlich ihm gehört.