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Kap. XI. V. 7—36.
V. 7: „Was also (ergibt sich daraus)? Daß Israel das nicht erreichte, was es anstrebte? Der auserwählte Teil (von ihm) hat es doch erreicht; die übrigen aber wurden verstockt.“
Der Apostel hat gesagt, daß Gott sein Volk nicht verstoßen habe. Er hat dargelegt, wie dieses Nichtverstoßensein (des ganzen Volkes) zu verstehen sei und hat sich dabei auf die Propheten berufen. Mit Hilfe derselben hat er gezeigt, daß tatsächlich der größere Teil (der Juden) zugrunde ging. Damit es nun nicht den Anschein habe, als trage er diesen Vorwurf als seine eigene Ansicht vor, und damit seine Rede nicht gehässig und er selbst als persönlicher Feind der Juden erscheine, beruft er sich wieder auf David und Jesaias, indem er spricht:
V. 8: „Wie geschrieben steht: Es schickte Gott über sie einen Geist der Starre“ 1.
Indes, wir müssen an die vorausgehende Stelle anknüpfen. — Der Apostel hat oben die Geschichte von Elias erzählt und klar gemacht, wie der Begriff „Gnade“ zu fassen sei. Nun fährt er fort: „Was also ergibt sich daraus? Daß Israel das nicht erreichte, was es anstrebte?“ Dieser Satz hat nicht so sehr den Sinn einer Frage als einer Behauptung, in der ein Vorwurf liegt. Liegt ja doch ein Widerspruch darin, zu sagen: der Jude hat die Gerechtigkeit angestrebt, die er aber doch wieder nicht annehmen mochte. Der Apostel schneidet ihnen wieder jede Entschuldigung ab; durch den Hinweis auf diejenigen aus ihnen, welche die Gerechtigkeit S. d95 tatsächlich empfingen, läßt er die Undankbarkeit der andern klar hervortreten, indem er sagt: „Der auserwählte Teil hat es doch erreicht.“ Diese auserwählten Juden verurteilen die andern. In diesem Sinne sagt auch Christus: „Wenn ich durch Beelzebub die Teufel austreibe, durch wen treiben sie denn eure Kinder aus? So werden diese eure Richter sein“ 2. Damit nämlich niemand die Verwerfung der Juden der Handlungsweise Gottes an sich zur Last lege, sondern ihrem eigenen freien Willen, weist der Apostel auf diejenigen aus ihnen hin, welche die Gerechtigkeit trotz allem erreicht haben. Er bedient sich dabei eines treffenden Wortes, durch welches er einerseits die Gnade von oben (die dabei mitwirkte), andererseits aber auch die eigene Tätigkeit (der auserwählten Juden) zum Ausdruck bringt. Nicht um ihre eigene Mitwirkung in Abrede zu stellen, sagt er: „Sie erreichten es“, sondern um die Größe des erreichten Gutes auszudrücken, und auch, daß das Mehr dabei Gnade war, doch nicht das Ganze. So pflegen auch wir zu sagen: „Der hat etwas erreicht“, „der hat etwas gefunden“, wenn wir sagen wollen, es sei ihm ein großer Gewinn zugefallen. Nicht menschlicher Mitwirkung, sondern dem göttlichen Gnadenerweis ist der Löwenanteil zuzuschreiben. — „Die übrigen aber wurden verstockt.“ Beachte, wann erst der Apostel es wagt, die Verwerfung der übrigen mit einem von ihm stammenden Ausdruck zu bezeichnen! Gesprochen hat er davon schon früher; aber er hat damals die Propheten als die angeführt, welche diese Anklage aussprechen. Hier aber spricht er sie nun auch selbst aus. Aber er läßt es doch auch noch nicht bei seinem eigenen Ausspruch bewenden, sondern führt wieder den Propheten Jesaias an; denn nach dem Worte „verstockt“ fährt er fort: „Wie geschrieben steht: Es schickt Gott über sie einen Geist der Starre.“ Woher diese Verstockung? Der Apostel hat schon früher die Ursachen davon angegeben und die ganze Schuld auf die Juden selbst geschoben, indem er darlegte, daß ihnen dies wegen ihres S. d96 unangebrachten Starrsinns widerfuhr. Das sagt er auch jetzt; denn wenn er spricht:
„Augen zum Nichtsehen und Ohren zum Nichthören“ , so will er damit nichts anderes verwerfen als das starrsinnige Festhalten an ihrer Meinung. Sie hatten ja Augen, um die Wunder zu sehen, und besaßen Ohren, um jene wunderbare Lehre zu hören, aber sie machten davon nicht den gehörigen Gebrauch. Unter dem Worte „er schickte über sie“ darfst du hier nicht eine Tätigkeit (von seiten Gottes) verstehen, sondern eine Zulassung. Mit „Starre“ meint hier der Apostel eine schlimme Seelenstimmung, die bleibend und unabänderlich ist. So sagt an einer andern Stelle David: „Auf daß dir lobsinge meine Seele und ich nicht erstarre“, d. h. nicht aufhöre, nicht etwas anderes tue. Denn geradeso wie jemand, der „starr“ festhält am Guten, nicht leicht anders wird, so ändert sich auch der nicht leicht, der „starr“ geworden ist im Bösen. „Starrwerden“ heißt also hier nichts anderes als auf etwas festgelegt und gleichsam angenagelt sein. Um also das Unbehebbare und das Unabänderliche ihrer einmal gefaßten Meinung zu bezeichnen, gebraucht der Apostel den Ausdruck „Geist der Starre“. — Hierauf bringt der Apostel zum Ausdruck, daß die Juden für diesen Unglauben die schwerste Strafe werden zu erleiden haben. Er führt wieder den Propheten an, der genau das androht, was wirklich geschehen und in Erfüllung gegangen ist.
V. 9: „Es werde ihnen, heißt es, ihr Tisch zur Schlinge, zum Jagdnetz und zum Anstoß.“
D. h. ihr Wohlstand, all ihre Güter sollen sich ins Gegenteil verwandeln; sie sollen verloren gehen und allen preisgegeben werden. — Um ferner auszudrücken, daß sie diese Strafe für ihre Sünden erleiden, fährt er fort: „Und das zur Vergeltung.“
V. 10: „Finster werden sollen ihre Augen, damit sie nicht sehen und ihren Rücken krampfe ganz und gar zusammen.“
— Bedürfen diese Worte noch einer Auslegung? Sind S. d97 sie nicht auch ganz Unwissenden klar? Besser als alle unsere Erklärungen dazu bezeugt die Geschichte (des jüdischen Volkes) das Zutreffen dieser Worte. Wann waren die Juden so leicht zu ergreifen wie jetzt? Wann so leicht zu fangen? Wann hat Gott ihren Rücken so zusammengekrampft? Und was noch mehr ist, es gibt auch keine Erlösung von diesen Übeln. Auch das hat der Prophet angedeutet. Er sagt nämlich nicht bloß einfach: „Ihren Rücken krampfe zusammen“, sondern: „ganz und gar“. Wenn du aber, o Jude, nicht zugeben willst, daß sich dieses prophetische Wort jetzt an dir erfülle, so lerne die Gegenwart verstehen aus der Vergangenheit! Du bist hinabgegangen nach Ägypten. Aber es verstrichen zweihundert Jahre, und da auf einmal hat dich Gott aus dieser Knechtschaft erlöst, obgleich du dort so gottlos gelebt und Unzucht, ja Unzucht schwerster Art getrieben hattest. Befreit aus Ägypten, hast du das goldene Kalb angebetet, deine Söhne dem Baalphegor geopfert, den Tempel entweiht und bist zu jeder Art von Schlechtigkeit herabgesunken. Du hast die Natur sogar verkannt, hast Berge, Täler, Hügel, Quellen, Flüsse und Haine mit deinen ruchlosen Opfern erfüllt; du hast Propheten gemordet, Altäre geschleift und hast die Schlechtigkeit und Gottlosigkeit bis zum Übermaß getrieben. Aber dennoch führte dich Gott, nachdem er dich siebzig Jahre lang in der Hand der Babylonier gelassen hatte, zu deiner früheren Freiheit zurück, er gab dir Tempel und Vaterland wieder, ebenso deine alte Staatsverfassung; ja auch Propheten gab es wieder und Gabe des Geistes; vielmehr, du warst auch während der Zeit deiner Gefangenschaft nicht davon verlassen, sondern auch dort gab es einen Daniel, einen Ezechiel, in Ägypten einen Jeremias und in der Wüste einen Moses.
