1.
Kap. XII, V. 4—13.
V. 4: „Denn geradeso wie wir an einem einzigen Leibe viele Glieder haben, nicht aber alle Glieder die gleichen Verrichtungen haben“,
V. 5: „so sind wir auch die vielen ein einziger Leib in Christus, die einzelnen aber Glieder voneinander.“
Wieder gebraucht der Apostel dasselbe Beispiel, das er auch im Korintherbriefe gebraucht hat, um dieselbe Leidenschaft zu zügeln. Denn groß ist die Kraft dieser Arznei, und groß die Macht dieses Beispiels, um die Krankheit der Überhebung zu heilen. Warum bildest du dir, will er sagen, viel ein? Oder warum hält sich ein anderer wieder für gering? Sind wir nicht alle ein einziger Leib, die Großen wie die Kleinen? Wenn wir nun dem Haupte nach eins sind und Glieder voneinander, was sonderst du dich ab durch Überhebung? Was verachtest du den Bruder? Geradeso wie er ein Glied von dir ist, so bist du eins von ihm. Die Gleichheit der Ehre ist in dieser Beziehung eine vollständige. Zwei Gründe führt der Apostel an, die hinreichend sind, die Überhebung seiner Zuhörer niederzuschlagen: daß wir Glieder voneinander sind, nicht bloß der Kleine von dem Großen, sondern auch der Große von dem Geringeren, und dann, daß wir alle zusammen ein einziger Leib sind. Eigentlich sind es sogar drei Gründe; denn der Apostel macht noch klar, daß auch die Gnadengabe [das Charisma], die uns gespendet worden ist, ein und dieselbe ist. Also, bilde dir nichts Großes darauf ein! Sie ist dir von Gott geschenkt worden, nicht du selbst bist die Ursache, daß du sie empfangen hast, nicht du selbst hast sie erfunden. Deshalb sagt auch der Apostel (weiter unten), wo er von den Gnadengaben spricht, nicht, daß der eine eine größere, der andere eine geringere empfangen habe, sondern was sagt er? „Verschiedene.“ „Wir haben“, heißt es, „verschiedene Gnaden- S. d136 gaben“, nicht „größere oder geringere“ 1 Was liegt auch daran, wenn du nicht dasselbe zugeteilt erhalten hast? Es ist ja doch derselbe Leib. Mit Gnadengaben beginnt der Apostel, mit Tugendwerken schließt er. Er nennt zuerst „Prophetengabe“ und „(Kirchen)amt“ u. a. und kommt schließlich zum „Almosen“, „Eifer“ und „Helfen“. Weil es nämlich (unter den Christen zu Rom) jedenfalls recht tugendhafte Leute gab, die aber die Prophetengabe nicht besaßen, so weist der Apostel darauf hin, daß auch die Tugend eine Gnadengabe, ja eine größere als die Prophetengabe sei, wie er schon im Briefe an die Korinther darauf hingewiesen hat; sie stehe um so viel höher, als der Lohn, der ihr in Aussicht steht, größer sei, während die Prophetengabe eines solchen entbehre. Denn diese ist ganz und gar nur Geschenk und Gnade. Darum sagt er:
V. 6: „Wir haben Gnadengaben, verschieden nach der Gnade, die uns von Gott verliehen ist, sei es die Prophetengabe nach dem Verhältnis des Glaubens.“
— Nachdem der Apostel seinen Zuhörern genug Trostvolles gesagt hat, will er sie zum Kampf aufrütteln und ihren Eifer mehr entfachen; er weist darauf hin, daß sie es selbst in der Hand haben, mehr oder weniger zu empfangen. Zwar sagt er, daß die Gnadengabe von Gott geschenkt sei, wie wenn er sagt: „Wie Gott einem jeden das Maß des anvertrauten Gutes zugemessen hat“, und wieder: „nach der Gnade, die uns verliehen ist“, um dadurch die Hochmütigen niederzudrücken. Er sagt aber auch, daß der Anfang von ihnen gemacht werden müsse, um die Trägen aufzurütteln. So macht er es auch im Korintherbriefe, wo er ebenfalls diese beiden Punkte berührt. Denn wenn er sagt: „Bemüht euch um die Gnadengaben“ 2, so zeigt er damit an, daß sie selbst die Ursache für das verschiedene Maß der Gaben sind; wenn er aber sagt: „Alles bewirkt ein und derselbe Geist, der einem jeden austeilt, wie er will“ 3, so will er damit S. d137 sagen, daß die Empfänger sich nicht überheben dürfen; überall will er bei ihnen die Krankheit des Stolzes heilen. Dasselbe hat er auch hier im Auge. Dann will er wieder die Niedergesunkenen aufrütteln und spricht: „Sei es die Prophetengabe nach dem Verhältnis des Glaubens.“ Wenn sie auch Gnade ist, so wird sie doch nicht nur so ausgeschüttet, sondern ihr Maß richtet sich nach den Empfängern. Sie fließt in demselben Maße, in welchem sie das Gefäß des Glaubens aufnahmsbereit findet.
V. 7: „Sei es ein Amt, (so erfülle er seine Aufgabe) im Amte.“
— Hier meint der Apostel eine Tätigkeit im allgemeinen. Denn auch das Apostelamt heißt διακονία, aber auch jedes geistliche Werk. Das Wort ist zwar auch die Bezeichnung für ein besonderes Kirchenamt, hier wird es jedoch in seiner allgemeinen Bedeutung genommen.
„Sei es, daß einer lehrt, in der Lehre.“
— Sieh, wie der Apostel die Aufgaben unterschiedslos nebeneinander setzt, das Kleine zuerst und das Große dann. Er lehrt damit wieder dasselbe, nämlich nicht darauf stolz zu sein, sich nicht zu überheben.
V. 8: „Sei es, daß einer Trost zuzusprechen versteht, im Zuspruch von Trost.“
— Es ist dies eine eigene Form des Lehramtes. „Wenn ihr ein Wort des Trostes dem Volke zu sagen wißt“, heißt es, „so sagt es“ 4. Dann gibt der Apostel zu verstehen, daß es keinen großen Nutzen bringe, die Tugend auszuüben. Wenn es nicht in der gehörigen Weise geschehe, und fährt fort:
„Wer (Almosen) auszuteilen hat“, (der tue es) mit Einfalt. Es genügt nämlich nicht, zu geben, sondern man muß es auch mit Freigebigkeit tun. Das versteht der Apostel überall unter „Einfalt“. Auch die (törichten) Jungfrauen hatten Öl, aber weil sie nicht genug hatten, gingen sie überhaupt daneben. S. d138 „Wer ein Vorsteheramt hat (übe es aus), mit Pflichteifer.“*
Denn das Vorsteheramt bloß zu bekleiden, genügt nicht.
„Wer Werke der Barmherzigkeit betreibt, mit Freudigkeit.“
Es ist nämlich nicht genug, Werke der Barmherzigkeit zu betreiben, sondern man muß es mit freigebiger Hand und unverdrossenem Gemüt tun; ja mehr noch: nicht bloß mit unverdrossenem Gemüt, sondern geradezu mit Heiterkeit und Freude. Denn es ist nicht dasselbe, nicht verdrossen zu sein und fröhlich zu sein. Denselben Gedanken führt der Apostel im Briefe an die Korinther mit großer Sorgfalt aus. Um zur Freigebigkeit anzuspornen, sagt er dort: „Wer kärglich säet, wird auch kärglich ernten; wer aber unter Segensprüchen säet, wird auch unter Segensprüchen ernten“ 5. Um die Absicht (beim Geben) rechtzurichten, fügt er bei: „Nicht mit verdrossener Miene oder aus Zwang.“ Beides soll bei einem Werk der Barmherzigkeit vereint sein: Freigebigkeit und Freudigkeit. Warum machst du ein weinerliches Gesicht beim Almosengeben? Was bist du betrübt bei Werken der Barmherzigkeit und bringst dich um den Lohn des guten Werkes? Wenn du dabei betrübt bist, so tust du kein Werk der Barmherzigkeit, sondern bist roh und gefühllos; denn wenn du betrübt bist, wie kannst du einen, der in Trauer ist, aufmuntern? Man kann nur wünschen, daß der Beschenkte, auch wenn ihm die Gabe mit Freudigkeit gereicht worden ist, nicht trotzdem Schlimmes wittere. Weil nämlich den Menschen nichts so unangenehm vorkommt, als von andern empfangen zu müssen, so wirst du den Empfänger (einer Gabe) mehr niederdrücken als aufrichten, wenn du nicht durch überschwängliche Freundlichkeit seinen Verdacht beseitigst und dir den Anschein gibst, als seist du eher der Empfänger als der Geber. Darum heißt es: „Wer Werke der Barmherzigkeit betreibt, (tue es) mit Freudigkeit.“ S. d139
