2.
Nochmals wendet der Apostel sein besonderes Augenmerk der Demut zu, von der er ausgegangen ist. Es war nämlich sehr wahrscheinlich, daß die Römer sich etwas einbildeten sowohl auf ihre Stadt wie auch auf manches andere. Darum geht er beständig dieser Krankheit zu Leibe und dämpft den Stolz. Nichts bringt nämlich am Leibe der Kirche solche Spaltungen hervor wie der Hochmut. — Was heißt aber das „gleiche Gesinnung gegeneinander hegen“? Da kommt z. B. ein Armer in dein Haus; werde mit ihm gleicher Gesinnung; bilde dir nichts mehr ein auf deinen Reichtum! In Christus gibt es keinen Reichen und keinen Armen. Schäme dich seiner nicht wegen der Ärmlichkeit seiner äußeren Hülle, sondern nimm ihn wohl auf wegen seines Glaubens im Innern. Wenn du einen Traurigen siehst, halte ihn nicht für unwert, ihn zu trösten! Wenn du einen Glücklichen siehst, so unterlaß es nicht, seine Freude zu teilen und dich mit ihm zu freuen! Was du für dich fühlst (in der gleichen Lage), das fühle auch für den andern; das heißt es, „die gleiche Gesinnung gegeneinander hegen“. Z. B. du hältst dich selbst für einen bedeutenden Menschen? Halte auch den andern dafür! Du mutmaßest von dem andern, er sei ein geringer und unbedeutender Mensch? Nun, schätze auch dich so ein und laß alle ungleiche Behandlung beiseite! Wie ist dies aber möglich? Wenn du deinen Hochmut läßt. Darum fährt der Apostel auch fort: „Wenn ihr nicht nach Hohem strebt, sondern den Niedrigen eure Teilnahme erweist“; d. h. laß dich herab zu ihrer Niedrigkeit, verkehre mit ihnen, komm in ihre Gesellschaft! Nicht allein deiner inneren Gesinnung nach laß dich herab zu ihnen, sondern leiste ihnen auch Hilfe, reiche ihnen deine Hand, nicht durch Vermittlung anderer, sondern in eigener Person; sei zu ihnen wie ein Vater zu seinem Kinde, wie das Haupt zum Körper! So heißt es auch an einer andern Stelle: „Den Gefangenen (seid) wie Mitgefangene“ 1. Unter „Niedrigen“ meint hier der Apostel nicht „Demütige“, sondern Leute niederen und verachteten Standes.
„Haltet euch nicht selbst für klug“; S. d154 d. h. glaubt nicht, daß ihr euch selbst genügt! An einer andern Stelle sagt die Schrift: „Wehe denen, die weise sind vor sich selbst und verständig in ihren eigenen Augen!“ 2 Darum geht der Apostel wieder dem Hochmut zu Leibe und drückt den Stolz und die Einbildung nieder. Nichts macht nämlich so hochmütig und trennt einen so sehr von den andern als die Meinung, man sei sich selbst genug. Darum hat es Gott so eingerichtet, daß wir einer des andern bedürfen. Bist du verständig, so wirst du einsehen, daß du des andern bedarfst; meinst du aber, niemanden zu brauchen, so bist du törichter und kraftloser als alle. Ein solcher beraubt sich selbst jeglicher Hilfe und wird niemals weder Zurechtweisung noch auch Verzeihung erfahren. Auch Gott reizt er durch seinen Hochmut zum Zorne und wird in zahlreiche (andere) Sünden fallen. Es geschieht, ja, es geschieht sogar oft, daß ein recht gescheiter Mensch nicht erkennt, was zu geschehen hat, während ein weniger gescheiter das Richtige findet. So war es der Fall bei Moses und seinem Schwiegervater, bei Saul und seinem Sohne, bei Isaak und Rebekka. Sei also nicht der Meinung, daß du dir etwas vergibst, wenn du einen andern brauchst! Das erhöht dich sogar, es vermehrt deine Kraft, es gibt dir mehr Ansehen und mehr Sicherheit.
V. 17: „Wenn ihr niemandem Böses mit Bösem zurückzahlt.“
— Wenn du es an einem andern tadelnswert findest, daß er dir Nachstellungen bereitet, warum setzest du dich demselben Vorwurf aus? Wenn jener schlecht gehandelt hat, warum hütest du dich nicht vor derselben Übereilung? Beachte hier auch, wie der Apostel keinen Unterschied macht, sondern das Gebot ganz allgemein gibt! Er sagt nicht: „Zahle dem Gläubigen nicht Böses zurück“, sondern: „Niemandem“, es mag ein Heide sein oder ein Gottloser oder was immer für einer.
„Habt eine edle Gesinnung allen Menschen gegenüber“,
V. 18: „indem ihr, wenn es möglich ist, so weit es auf euch ankommt Frieden haltet mit allen Menschen!“ S. d155 D. h. „es leuchte euer Licht vor den Menschen“ 3, nicht aus Sucht nach eitler Ehre, sondern um nicht böswilligen Menschen eine Handhabe gegen uns zu bieten. Darum sagt der Apostel an einer andern Stelle: „Seid nicht zum Anstoß weder den Juden noch den Heiden noch der Kirche Gottes!“ 4 Treffend fügt der Apostel die Einschränkung bei: „Wenn es möglich ist.“ Es gibt nämlich Fälle, wo es nicht möglich ist, z. B. wenn es sich um die Gottesfurcht handelt, wenn es den Kampf für solche gilt, denen ein Unrecht geschehen ist. Was Wunder, daß dies unter fremden Menschen vorkommt, da der Apostel diese Notwendigkeit sogar bei Mann und Weib annimmt, wenn er sagt: „Will aber der Ungläubige sich scheiden, so mag er sich scheiden“ 5. Der Sinn der Apostelworte ist folgender: Von deiner Seite tue deine Schuldigkeit und gib niemandem Anlaß zu Kampf und Streit, weder einem Juden noch einem Heiden; wenn du aber die Gottesfurcht Schaden leiden siehst, dann setze die Eintracht nicht über die Wahrheit, sondern steh mannhaft für diese ein bis zum Tode! Aber auch in diesem Falle hege keine Kampfgesinnung, wende dich (von deinem Mitmenschen) nicht innerlich ab, sondern führe den Kampf nur äußerlich! Das heißt es: „Haltet Frieden, soweit es auf euch ankommt, mit allen Menschen!“ Hält der andere keinen Frieden, so laß doch wenigstens deine Seele nicht einnehmen von dem Sturme, sondern sei ihm freundlich gesinnt, aber, wie ich eben sagte, werde nie zum Verräter an der Wahrheit!
V. 19: „Rächet euch, Geliebte, nicht selbst, sondern gebet Raum dem Zorne; denn es steht geschrieben: ‚Mein ist das Rächeramt, ich will vergelten, spricht der Herr.’“
— Welchem Zorne? Dem Zorne Gottes. Da nämlich der Beleidigte meist darnach lechzt, seinen Durst nach Rache gestillt zu sehen, räumt ihm der Apostel diese Möglichkeit in vollstem Maße ein. Wenn er selbst sich nicht rächt, so wird Gott sein Rächer sein. Gestatte ihm S. d157 also, dazu zu kommen. Das heißt es: „Gebet Raum dem Zorne.“