4.
Aber nicht bloß Liebe schlechtweg verlangt Gott von uns, sondern hoch gesteigerte. Er sagt nämlich nicht bloß: „Liebe deinen Nächsten“, sondern: „wie dich selbst“. In diesem Sinne sagt auch Christus, daß das Gesetz und die Propheten an dieser Liebe hangen 1. Er unterscheidet zwei Arten von Liebe; schau nur, in welcher Reihenfolge er sie anführt! Er sagt: „Das erste Gebot ist dieses: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben“, dann fügt er das zweite daran; er übergeht es nicht etwa mit Stillschweigen, sondern spricht es ausdrücklich aus: „Das andere ist diesem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst?“ Was kommt einer solchen Liebe zu uns Menschen, einer solchen Milde gleich? Während der Abstand zwischen uns und ihm unermeßlich ist, setzt er doch die Liebe zu ihm gleich hinter die zu uns selbst und sagt sogar, daß diese jener gleich sei. Er setzt fast dasselbe Maß für beide Arten von Liebe fest; von der Liebe zu ihm sagt er: „Aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele“, von der zu unserem Nächsten: „wie dich selbst“. Und Paulus sagt, daß ohne die letztere auch die erstere nicht viel nütze. So wie wir, wenn wir jemanden lieben, sagen: „Wenn S. d171 du jenen liebst, so liebst du auch mich“, so drückt Christus dasselbe aus, wenn er sagt: „Diese ist jener ähnlich“; und zu Petrus spricht er: „Wenn du mich liebst, so weide meine Schafe“ 2.
V. 10: „Die Liebe zum Nächsten verübt kein Unrecht: die Liebe ist also des Gesetzes Erfüllung.“
— Siehst du, wie die Liebe alle Tugenden in sich schließt, sowohl die Flucht vor dem Bösen — „sie verübt kein Unrecht“ — als auch die Ausübung des Guten — „sie ist des Gesetzes Erfüllung“! — Sie führt uns nicht bloß in die Lehre von den Pflichten kurz und bündig ein, sondern sie erleichtert uns auch die Erfüllung derselben. Sie zielt nicht bloß darauf ab, daß wir unsere Pflichten kennen lernen — das tut das Gesetz —, sondern sie gewährt uns auch starke Hilfe bei Erfüllung derselben; sie ist nicht bloß ein Teil der Gebote, sondern bringt in uns die Tugend in ihrem ganzen Umfange zur Verwirklichung.
Laßt uns also einander lieben, um dadurch zu beweisen, daß wir Gott lieben, der uns liebt. Bei den Menschen wehrt sich ein Liebender dagegen, wenn du die von ihm geliebte Person auch liebst. Gott dagegen läßt dich gerne an seiner Liebe teilnehmen, ja er sieht es ungerne, wenn man dieselbe nicht mit ihm teilt. Die Liebe unter Menschen ist voll von Neid und Mißgunst, die Liebe Gottes dagegen ist jeder Leidenschaft bar. Darum sucht er sogar Teilhaber seiner Liebe. Er spricht: „Liebe mit mir, und ich werde dann auch dich um so mehr lieben!“ Siehst du da die Sprache eines recht herzlich Liebenden? Wenn du die liebst, die von mir geliebt werden, dann erachte ich mich von dir innig geliebt. Er verlangt ja so sehnlich nach unserem Heil und hat dies seit jeher bekundet. Höre, was er bei der Erschaffung des Menschen sagt: „Lasset uns den Menschen machen nach unserem Ebenbilde“ 3, und wiederum: „Laßt uns ihm eine Gehilfin machen; es ist nicht gut, daß er allein sei“ 4. Und als er ihn nach der Übertre- S. d172 tung des Gebotes zur Rede stellt, sieh, wie mild er dies tut. Er spricht nicht zu ihm: „Du Elender, du Verruchter! So viele Wohltaten hast du genossen, und nach alledem schenkst du doch dem Teufel Glauben, kehrst deinem Wohltäter den Rücken und hältst es mit dem bösen Geiste?“ Nein, sondern was spricht er: „Wer sagt dir, daß du nackt bist, wenn du nicht etwa von dem Baume gegessen hast, von dem allein zu essen ich dir verboten habe?“ 5 Es ist, wie wenn ein Vater seinem Söhnchen verboten hat, ein Schwert anzurühren, und dann, als es ungehorsam gewesen ist und sich verwundet hat, zu ihm spricht: „Woher hast du deine Wunde? Du hast dich verwundet, weil du mir nicht gefolgt hast.“ Hörst du daraus nicht mehr die Sprache eines Freundes als eines Herrn? Eines mißachteten Freundes, der aber trotzdem nicht von der Freundschaft läßt? Laßt uns seinem Beispiele folgen; wenn wir einen Tadel auszusprechen haben, laßt es uns mit derselben Sanftmut tun! Auch das Weib stellt er mit derselben Milde zur Rede. Eigentlich ist es gar kein Strafwort, sondern eine Ermahnung und Belehrung, eine Warnung für die Zukunft. Darum sagte er auch zur Schlange (weil sie nicht besserungsfähig war, nichts. Sie war ja die Anstifterin des Unheils und konnte auf niemanden die Schuld schieben. Darum bestrafte sie Gott ganz besonders schwer. Ja, er bleibt dabei nicht stehen, sondern macht auch die Erde des Fluches teilhaftig. Was übrigens das betrifft, daß er den Menschen aus dem Paradiese vertrieb und ihn zur Arbeit verurteilte, so müssen wir ihn gerade deswegen anbeten und ihm Bewunderung zollen. Weil nämlich das Wohlleben zum Leichtsinn verleitet, darum beschneidet Gott die Lebensfreude und legt den Schmerz wie eine Mauer um den Leichtsinn, damit wir zu seiner Liebe gelangen. Was war aber mit Kain? Bedient er sich ihm gegenüber nicht ebenfalls einer milden Sprechweise? Obgleich von ihm mehrfach mit Schimpf behandelt, gibt er ihm nicht den Schimpf zurück, sondern redet ihm gütlich zu und spricht: „Warum ist dein Angesicht eingefallen?“ Und doch war seine Tat unver- S. d173 zeihlich; sein jüngerer Bruder ist ein Beweis dafür. Aber auch dann fährt ihn Gott nicht zürnend an, sondern was spricht er? „Du hast gesündigt; sei ruhig und sündige fernerhin nicht mehr; zu dir wird er sich wenden, und du wirst über ihn herrschen“ — er meint den Bruder. Wenn du etwa fürchtest, ich möchte dir wegen des beim Opfer Vorgefallenen das Vorrecht der Erstgeburt entziehen, so sei getrost! Ich lege die ganze Herrschaft über deinen Bruder in deine Hände. Bessere dich nur und liebe ihn, da er dir doch nichts zuleide getan hat. Ich trage Sorge für beide von euch. Das freut mich am meisten, wenn ihr gegeneinander nicht feindselig seid. Wie eine liebevolle Mutter wendet Gott alle möglichen Mittel an, damit nicht einer mit dem andern in Zwiespalt gerate.