2.
Sieh da, wieder ein anderer Hieb! Es scheint eine Rüge für den Starken zu sein, getroffen wird aber der andere. Denn wenn der Apostel weiter sagt:
„Er wird aber auf die Beine gebracht werden“,
so drückt er dadurch aus, daß er noch schwankt und darum noch großer Rücksichtnahme bedarf; auch einer so sorgfältigen Behandlung bedarf er, daß man Gott als Arzt rufen muß.
„Denn Gott“, heißt es, „ist imstande, ihn auf die Beine zu bringen.“
— So sprechen wir von Kranken, an deren Aufkommen man stark zweifelt. Damit aber der Judenchrist nicht mutlos werde, nennt er ihn, den Schwachen, doch einen Sklaven, indem er sagt: „Wer bist du, daß du einen andern Sklaven bekrittelst?“ Dabei versetzt der Apostel dem Judenchristen wieder versteckterweise einen Seitenhieb. Nicht deswegen, sagt er gleichsam, verbiete ich, ihn zu bekritteln, weil er nichts getan hat, was bekrittelt zu werden verdiente, sondern weil er ein fremder Sklave ist, d. h. nicht deiner, sondern Gottes. Dann gibt er ihm wieder einen Trost; er sagt nicht: er fällt, sondern was? „Er steht oder fällt.“ Ob das eine oder das andere geschieht, beides geht seinen Herrn an; dessen Schaden ist es, wenn er fällt, wie es sein Vorteil ist, wenn er steht. Wenn wir hier nicht den Zweck im Auge behielten, warum Paulus das sagt — er will die Juden-Christen nicht tadeln, bevor die Zeit dazu gekommen ist — müßten wir es unvereinbar finden mit der den Christen gebührenden Fürsorge. So aber muß man, wie ich schon immer sage, die Absicht prüfen, warum er S. d198 etwas sagt, die Voraussetzung, auf welcher das Gesagte beruht, und was er damit in die rechte Ordnung bringen will. Diese Worte enthalten eine nicht zufällige Zurechtweisung. Wenn Gott, wollte er sagen, den es zunächst angeht, bisher nichts tut, wie kommst denn du dazu, ihn durch deinen unzeitigen und ungestümen Eifer zu ängstigen und zu quälen?
V. 5: „Der eine macht einen Unterschied zwischen Tag und Tag, der andere aber hält jeden Tag für gleich.“
Hier scheint Paulus auf das Fasten anzuspielen. Wahrscheinlich bekrittelten manche von denen, welche fasteten, beständig die, welche nicht fasteten, oder es gab unter denen, die das jüdische Gesetz noch beobachteten, einige, welche gewisse Tage als Fasttage hielten und gewisse Tage nicht. Darum sagt er auch:
„Darüber soll ein jeder in seinem eigenen Innern mit sich fertig werden.“
Auf diese Weise befreit er die Gesetzesbeobachter von ihrer Furcht, indem er die Sache als belanglos erklärt, und schiebt der Streitlust der andern, die ihnen deswegen heftig zusetzten, einen Riegel vor, indem er zeigt, daß der fromme Eifer es gerade nicht fordere, sie deswegen immerfort zu belästigen. Der fromme Eifer forderte es nicht, nicht in Anbetracht der Sache, um die es sich handelte, sondern in Anbetracht des Umstandes, daß sie noch Neulinge im Glauben waren. Im Briefe an die Kolosser verbietet er dasselbe mit Eifer, wenn er sagt: „Sehet euch wohl vor, daß euch niemand einfange vermittelst der Weltweisheit und nichtigem Trug nach Art (einer Religion) menschlicher Erfindung, nach Art (einer Verehrung) der Naturkräfte, nicht nach Art Christi“ 1. Und wiederum: „Es soll euch niemand eine Vorschrift machen in bezug auf Speise und Trank“ 2, und: „Es soll euch niemand den Sieg rauben.“ Im Briefe an die Galater verlangt er von diesen mit aller Strenge das rechte Wissen in diesen Dingen und auch das Verhalten darnach. Hier jedoch schlägt er nicht S. d194 diesen Ton an, weil ihr Glaube noch jugendschwach war. Der Satz: „Darüber soll ein jeder in seinem eigenen Innern mit sich fertig werden“ ist also nicht allgemein zu nehmen. Höre nur, was er sagt, wenn von Glaubenssätzen die Rede ist! „Wenn euch jemand eine Heilsbotschaft verkündet, die abweicht von der, die ihr von mir empfangen habt, so sei der Bann über ihn ausgesprochen!“ 3 Und wiederum: „Ich fürchte, daß, wie die Schlange die Eva berückt hat, so auch euer Sinn verdorben werde“ 4. Und im Briefe an die Philipper sagt er: „Habt acht auf die Hunde, habt acht auf die bösen Arbeiter, habt acht auf die Zerschneidung!“ 5 Weil es aber bei den Römern noch nicht an der richtigen Zeit war, in diesem Punkte auf vollständige Richtigkeit zu dringen, heißt es hier: „Darüber soll ein jeder in seinem eigenen Innern mit sich fertig werden.“ Er sagt das hier, wo vom Fasten die Rede ist, um das zu schroffe Aburteilen der einen hintanzuhalten und die Ängstlichkeit der andern zu bannen.
V. 6: „Wer den Tag im Gedächtnisse behält, hält ihn im Gedächtnisse dem Herrn zuliebe; wer ihn nicht im Gedächtnisse behält, hält ihn nicht im Gedächtnisse dem Herrn zuliebe. Und der ißt, ißt dem Herrn zuliebe; er spricht ja dabei ein Dankgebet zu Gott. Der nicht ißt, ißt nicht Gott zuliebe und spricht zu Gott auch ein Dankgebet.“
Noch immer hält sich der Apostel bei demselben Gedanken auf. Der Sinn seiner Worte ist folgender: Hier handelt es sich nicht um Hauptstücke. Die Frage ist die, ob der eine wie der andere Gott zuliebe handelt. Die Frage ist, ob beide darauf hinauskommen, Gott Dank zu sagen. Ja; denn der eine wie der andere spricht ja ein Dankgebet zu Gott. Wenn also beide Gott danken, so ist ja kein großer Unterschied. Beachte da, wie S. d195 der Apostel hier wieder dem Christen, der am jüdischen Gesetze festhält, versteckt einen Seitenhieb versetzt! Denn wenn sie die Frage um den Dank dreht, so ist ja klar, daß der, welcher ißt, derjenige ist, welcher (Gott) dankt, nicht der, welcher nicht ißt. Wie könnte dies auch der letztere, da er ja am Gesetze festhält. Das sagt der Apostel auch im Briefe an die Galater. „Ihr, die ihr im Gesetze Rechtfertigung finden wollt, fallt aus dem Bereich der Gnade heraus“ 6. Hier deutet dies der Apostel nur an, spricht es aber nicht so deutlich aus. Es war noch nicht die richtige Zeit dazu. Vorläufig läßt er es noch dahingestellt sein und drückt sich deutlicher darüber im folgenden aus. Er sagt nämlich:
V. 7: „Niemand von uns lebt ja sich selber, und niemand stirbt sich selber.“
V. 8: „Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn; und wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn.“
Durch diese Worte bringt der Apostel denselben Gedanken noch klarer zum Ausdruck. Denn wie kann der, welcher dem Gesetze lebt, Christus leben? Nicht bloß das beweist der Apostel, sondern er hält auch den zurück, der sich ungestüm darauf stürzt, jene auf den rechten Weg zu bringen. Er rät, Geduld zu haben, indem er darauf hinweist, daß Gott sie unmöglich ganz aufgeben kann, daß er sie schon zur rechten Zeit auf den rechten Weg bringen wird.