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Kap. XIV, V. 14—23.
V. 14: „Ich weiß und bin im Herrn Jesus dessen ganz gewiß, daß nichts an sich selber gemein ist, außer für den, der es für gemein hält.“
Oben hat der Apostel denjenigen getadelt, der seinen Bruder bekrittelt, und hat ihn dadurch von einem solchen Gehaben abzubringen gesucht. Im folgenden beleuchtet er dieselbe Sache vom Glaubensstandpunkte aus und belehrt den (im Glauben) Schwächeren in aller Ruhe. Dabei legt er seine große Milde an den Tag. Er spricht nämlich nicht davon, daß er dafür bestraft werden wird, noch von etwas dergleichen, sondern er sucht ihm nur die Furcht zu benehmen, daß er etwa sündhaft handle. Auf diese Weise will er seinen Worten leichteren Eingang verschaffen. Er sagt: „Ich weiß und bin dessen gewiß.“ Damit ihm ferner nicht einer von denen, die anderer Ansicht sind, entgegnen könne: Was geht das uns an, daß du dessen ganz gewiß bist? Du bist uns nicht glaubwürdig genug, wenn du gegen ein solches Gesetz, das uns als Geschenk des Himmels zugekommen ist, auftrittst, darum fügt er bei: „im Herrn“, d. h. von ihm bin ich darüber unterrichtet, von ihm habe ich mein Wissen darüber; was ich sage, ist also nicht ausgeklügelt durch Menschenwitz. — Nun, sag’ an, wessen bist du denn ganz gewiß, was weißt du denn? — „Daß nichts an sich selber gemein ist.“ Daß von Natur aus, will der Apostel sagen, nichts unrein ist, sondern daß es so erst wird durch die Meinung dessen, der davon Gebrauch macht. Nur für diesen ist es unrein, nicht für alle. „Nur für den“, sagt er, „der es für gemein hält.“ — Warum bringst du aber dann den Bruder nicht zum richtigen Verständnis, daß er nicht etwas für unrein halte? Warum bringst du ihn nicht nach Möglichkeit ab von seiner zurückgebliebenen, falschen Meinung, daß er nichts für gemein ansehe? — Ich fürchte, antwortet der Apostel, ihn zu betrüben. Er fährt nämlich fort: S. d210 V. 15: Wenn aber dein Bruder einer Speise wegen (von dir) Harm erfährt, dann wandelst du nicht mehr nach der Liebe.“
— Siehst du, wie der Apostel den Judenchristen für sich gewinnen will, indem er so große Rücksicht für ihn an den Tag legt, daß er, nur um ihm keinen Harm anzutun, es nicht einmal wagt, ihm etwas Notwendiges zu gebieten, sondern ihn mehr durch Nachsicht und Liebe an sich zu ziehen sucht? Nachdem er ihm nämlich die Furcht benommen hat, zieht und nötigt er ihn nicht mit Gewalt, sondern läßt ihm die freie Wahl. Es wäre nicht recht, ihn von der Beobachtung des (jüdischen) Speisegesetzes abbringen zu wollen und ihm dabei einen Harm anzutun. Siehst du, wie sorgfältig der Apostel darauf bedacht ist, die Liebe zu wahren? Er weiß gar wohl, daß die Liebe imstande ist, alles ins rechte Geleise zu bringen. Darum verlangt er an dieser Stelle sogar noch etwas mehr an Liebe. Ihr dürft die Judenchristen, sagt er, nicht nur nicht zwingen, ihren Brauch aufzugeben, sondern ihr dürft euch, wenn nötig, nicht einmal weigern, diesen Brauch mitzumachen. Er fährt nämlich fort:
„Bringe nicht um einer Speise willen den ins Verderben, für welchen Christus gestorben ist.“
Oder steht dir der Bruder nicht für so viel, daß du ihm durch Enthaltung von gewissen Speisen zum Heile verhelfen möchtest? Christus hat sich nicht geweigert, seinetwegen Knechtsgestalt anzunehmen und für ihn zu sterben; du aber magst nicht einmal gewisse Speisen beiseite lassen, um ihn zu retten? Obwohl Christus gar wohl wußte, daß er nicht alle werde gewinnen, starb er doch für alle; er hat dazu getan, was an ihm lag. Du aber weißt, daß du um der Speise willen deinen Mitbruder in größeren Dingen in Verwirrung bringst, und bestehst doch auf deinem Recht? Du hältst den, der Christus so sehr am Herzen lag, für verächtlich und schätzest den gering, den Christus liebte? Er starb nicht bloß für einen (im Glauben) Schwachen, sondern sogar für einen Feind; du aber magst dich nicht einmal gewisser Speisen enthalten dem Schwachen zulieb? Christus S. d211 hat das Größte getan, du nicht einmal etwas ganz Geringes? Und doch war er der Herr, du aber bist der Bruder. Jene Worte des Apostels sind ganz geeignet, dem Heidenchristen, den sie angehen, die Rede zu verschlagen; denn sie lassen ihn als einen ganz engherzigen Menschen erscheinen, der nach all dem Großen, das er von Seiten Gottes genossen hat, nicht einmal ein Geringes als Gegendienst leisten mag.
V. 16: „Laß nicht zum Gespötte werden das gemeinsame Wohl; das Reich Gottes ist ja nicht Essen und Trinken.“
„Das gemeinsame Wohl“ bedeutet hier entweder den christlichen Glauben oder die Hoffnung auf die zukünftige Belohnung oder die christliche Vollkommenheit. Du schaffst, will der Apostel sagen, nicht nur dem Bruder keinen Nutzen, sondern du läßt auch den Glauben, die Gnade Gottes und sein Geschenk zum Gespötte werden. Denn wenn du in einem fort Krieg führst, wenn du hartnäckig auf deiner Meinung beharrst, wenn du dem Bruder Harm antust, wenn du eine Spaltung in die Kirche bringst, deinen Mitbruder schmähst und dich feindlich zu ihm stellst, so reden die andern, die außerhalb der Kirche stehen, bös darüber. Und so hast du damit nicht nur nichts in Ordnung gebracht, sondern das gerade Gegenteil erreicht. Denn euer gemeinsames Wohl, das ist die Liebe, die Brüderlichkeit, das einträchtige Zusammenhalten, ein friedliches und freundliches Nebeneinanderleben.
Hierauf sucht der Apostel durch einen neuen Gedanken die Ängstlichkeit des Judenchristen und die Hartnäckigkeit des Heidenchristen zu bannen, indem er sagt: „Das Reich Gottes ist ja nicht Essen und Trinken.“ Wir werden doch nicht in solchen Dingen unsern Ruhm suchen? Es ist derselbe Gedanke, den er anderswo so ausspricht: „Weder kommen wir vorwärts, wenn wir (gewisse Speisen) essen, noch gehen wir zurück, wenn wir (sie) nicht essen“ 1. Das bedarf nicht einmal eines weiteren Beweises, sondern es genügt, dies einfach zu behaupten. Der Sinn dieses Satzes ist folgender: S. d212 Das Nichtessen (gewisser Speisen) bringt uns nicht in den Himmel. Um diejenigen, die sich darauf etwas einbilden, zu widerlegen, spricht er nicht allein vom Essen, sondern auch vom (nach beider Ansicht ganz gleichmütigen) Trinken. Welche Dinge sind es, die uns in den Himmel bringen?
„Gerechtigkeit und Friede und Freude“,
ein tugendhaftes Leben, ein friedfertiges Verhalten dem Bruder gegenüber; diesem Verhalten ist aber ein hartnäckiges Festhalten an seiner Meinung gerade entgegengesetzt. Die Freude, die aus der Eintracht hervorgeht, wird durch verletzenden Tadel unmöglich gemacht. Das sagt der Apostel nicht bloß dem einen, sondern auch dem andern zur Beherzigung. Es war eine gute Gelegenheit, dies beiden zu sagen.
1 Kor. 8, 8. ↩
