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Kap. XV, V. 8—13.
V. 8: „Ich sage nämlich, daß Christus Jesus Diener der Beschneidung geworden ist um Gottes Wahrhaftigkeit willen, um die den Vätern gemachten Verheißungen einzulösen.“
Wieder spricht der Apostel von der Sorge, die Christus uns hat angedeihen lassen, und hält sich bei diesem Punkte noch länger auf, indem er zeigt, was Christus für uns getan hat und wie er „nicht sich selbst gefällig war“. Daneben beweist er auch, daß gerade die Heiden Gott zu noch größerem Danke verpflichtet sind. Oben hat er den Juden hart zugesetzt, damit sie sich nicht über die Heiden erheben; jetzt drückt er wieder die Einbildung der Heiden nieder, indem er zeigt, daß den Juden die Wohltaten, die sie empfangen haben, zufolge von Verheißungen zuteil geworden seien, die ihren Vätern gemacht worden sind, den Heiden dagegen rein nur aus Erbarmen und Liebe. Darum heißt es im folgenden: „Die Heiden sollen Gott preisen um seiner Erbarmungen willen.“ Damit das Gesagte klarer werde, ist es angezeigt, noch einmal den ganzen Zusammenhang zu hören, damit man erkenne, was es heißt, um Gottes Wahrhaftigkeit willen sei Christus zum Diener der Beschneidung geworden, um die den Vätern gemachten Verheißungen einzulösen. Was haben also diese Worte für einen Sinn? Dem Abraham war eine Verheißung geworden, die lautete: „Dir und deinem Samen will ich das Land geben, und in deinem Samen werden gesegnet werden alle Völker der Erde“ 1. In der Folge jedoch waren alle, die vom Samen Abrahams waren, strafwürdig geworden; denn die Übertretung des Gesetzes zog ihnen den Zorn Gottes zu und beraubte sie jener den Vätern gemachten Verheißung. Als nun der Sohn S. d236 Mensch geworden war, wirkte er mit dem Vater zusammen darauf hin, daß jene Verheißungen zur Wahrheit würden und in Erfüllung gingen. Dadurch nämlich, daß er das ganze Gesetz erfüllte, und darunter auch das Gebot der Beschneidung, und dazu noch durch seinen Kreuzestod, hob er den Fluch auf, der auf die Übertretung folgte, und ließ nicht zu, daß die Verheißung unerfüllt blieb. Wenn es also heißt: „Diener der Beschneidung“, so ist damit gemeint, daß Christus, als er kam, das ganze Gesetz erfüllte, daß er auch beschnitten wurde, daß er ein Nachkomme Abrahams wurde, daß er den Fluch löste, daß er den Zorn Gottes besänftigte, daß er die, welche die Verheißung empfangen sollten, fähig dazu machte, indem er sie ein für allemal von der Schuld befreite. Die Juden sollten auf den Vorwurf (daß sie bei ihrem Gesetze bleiben) nicht antworten können: „Wie kommt es denn, daß Christus beschnitten wurde und das ganze Gesetz erfüllte?“ Darum kehrt der Apostel den Beweis um: Nicht damit das Gesetz bestehen bleibe, sagt er, hat Christus das getan, sondern damit er es aufhebe, damit er dich von dem Fluch des Gesetzes erlöse und von seiner Herrschaft ganz befreie. Weil du das Gesetz übertreten hast, darum hat er es erfüllt. Seine Absicht dabei war nicht, daß du es erfüllen sollst, sondern damit er dir gegenüber die den Vätern gemachten Verheißungen einlöse. Das Gesetz hatte bewirkt, daß sie hinfällig geworden waren. Der Apostel zeigt, daß du dich verfehlt hast und des Erbes unwürdig geworden bist. So bist auch du aus Gnade gerettet worden; denn du warst ebenfalls bereits verworfen. Streite dich also nicht und halte nicht hartnäckig und unzeitig am Gesetze fest! Du wärest ja auch der Verheißung verlustig geworden, wenn nicht Christus so viel für dich gelitten hätte. Er hat das gelitten, nicht weil du die Rettung verdient hattest, sondern um Gottes Verheißungen wahr zu machen.
Damit nun dies den Heiden nicht aufgeblasen mache, sagt der Apostel weiter:
V. 9: „Die Heiden sollen Gott preisen um seiner Erbarmungen willen.“ S. d237 Der Sinn dieser Stelle ist folgender: Die Juden hatten wenigstens Verheißungen, wenn sie ihrer auch unwürdig waren. Du hast aber auch das nicht, sondern bist rein aus Liebe gerettet worden. Wohl hätten auch die Juden nichts von der Verheißung gehabt, wenn Christus nicht gekommen wäre; aber der Apostel erwähnt doch die Verheißungen, um die Heidenchristen klein zu machen und bei ihnen keine Überhebung gegen die Schwachen aufkommen zu lassen. Von diesen letzteren sagt der Apostel ausdrücklich, daß sie rein nur aus Erbarmen gerettet worden seien; darum sei es recht und billig, daß sie Gott ganz besonders lobpreisen. Ein Lobpreis Gottes liegt aber darin, daß wir uns aneinander anschließen, daß wir zusammenhalten, daß wir einmütig ihn loben, daß wir den Schwächeren ertragen, daß wir das abgetrennte Glied nicht verachten.
Hierauf führt der Apostel Schriftstellen zum Beleg dafür an, daß der Judenchrist mit den Heidenchristen eins miteinander sein sollen. Er sagt:
„Wie geschrieben steht: Darum will ich dich, Herr, bekennen unter den Heiden und deinem Namen Lob singen.“
V. 10: „Und: frohlocket ihr Heiden, im Verein mit seinem Volke!“
V. 11: „Und: Lobet den Herrn alle Heiden, und alle Völker sollen ihn preisen!“
V. 12: „Und: Die Wurzel wird es sein, und der da aufsproßt aus ihr, zu herrschen über die Heidenvölker, auf ihn werden die Heidenvölker ihre Hoffnung setzen.“
— Alle diese Zeugnisse führt der Apostel vor, um zu zeigen, daß es notwendig sei, einmütig zusammenzustehen und Gott zu preisen. Zugleich will er dadurch dem Juden einen Dämpfer aufsetzen, damit er sich nicht dem Heidenchristen gegenüber erhebe, da ja alle Propheten auch an diese ihren Ruf ergehen ließen. Den Heidenchristen will er zur Bescheidenheit anhalten, indem er ihm vor Augen stellt, daß er für ein größeres Maß von Gnade zu danken habe. S. d238
Gen. 12, 7; 22, 18. ↩
