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Kap. IV, V. 1—21.
V. 1: „Was können wir also sagen, daß Abraham, unser Vater, erlangt habe dem Fleische nach?“
V. 2: „Denn wenn er durch Werke gerechtfertigt worden ist, so hat er wohl Ruhm, aber nicht bei Gott.“
Der Apostel hat (im vorausgehenden) gesagt, daß die ganze Welt vor Gott Schuldner geworden, daß alle gesündigt haben, daß es auf eine andere Weise keine Rettung gebe als durch den Glauben; im folgenden bemüht er sich, darzulegen, daß eine solche Rettung keineswegs eine Schande bedeute, sondern eher ein glänzender Ruhmestitel sei, ein Titel größeren Ruhmes sogar als die (Rettung) durch die Werke. Da nämlich ein Gerettetwerden mit eigener Beschämung etwas Entehrendes an sich hat, so beseitigt der Apostel im folgenden diesen Anstoß. Er hat dies übrigens schon früher angedeutet, wenn er nicht bloß von einer „Rettung“, sondern auch von einer (dadurch erlangten) „Gerechtigkeit“ sprach. „Die Gerechtigkeit Gottes“, heißt es (oben), „wird an ihm offenbar“ 1. Wer so gerettet worden ist, ist gerettet als Gerechter und damit zugleich ausgezeichnet. Und nicht bloß Gerechtigkeit besagt (ein solches Gerettetwerden), sondern auch ein Sichoffenbaren Gottes. Gott offenbart sich aber nur in ruhmvollen, glänzenden, großen Dingen. Übrigens bringt der Apostel dies auch im vorausgehenden durch seine Redeweise zum Ausdruck. Er wendet nämlich die (rhetorische) Frageform an, was er immer tut, wenn er recht klar werden oder etwas mit rechtem Nachdruck behaupten will. So tut er es an den obigen Stellen. „Was hat also der Jude voraus?“ fragt er, und: „Was haben also wir voraus?“, und wiederum: „Wo ist das Rühmen? Es ist ausgeschlossen“, und hier: „Was können wir also sagen, daß Abraham, unser Vater... ?“ S. b129 Da nämlich die Juden soviel Wesens damit machten, daß der Patriarch und Gottesfreund als erster die Beschneidung gehabt habe, will der Apostel zeigen, daß auch Abraham durch den Glauben gerechtfertigt wurde. Darin lag ein voller Sieg. Daß einer gerettet wird durch den Glauben, der keine Werke aufzuweisen hat, das ist nichts Absonderliches; daß aber ein Mann, der durch seine Gesetzeswerke hervorstach, nicht von da aus, sondern durch den Glauben gerecht wurde, das war etwas Staunenswertes und setzte die Kraft des Glaubens ins hellste Licht. Deshalb übergeht er alle andern und führt die Rede auf ihn.
„Einen Vater dem Fleische nach“ nennt ihn der Apostel; er benimmt damit den Juden die Meinung, als seien nur sie echte Kinder Abrahams, und arbeitet dem Beweise vor, daß auch die Heiden dessen Kinder seien. „Denn wenn Abraham durch Werke gerechtfertigt worden ist, so hat er wohl Ruhm, aber nicht bei Gott.“ Oben hat er gesagt und es mit guten Gründen bewiesen, daß Gott Beschnittene wie Unbeschnittene durch den Glauben gerecht macht; nun zeigt er dasselbe am Beispiele Abrahams noch überzeugender, als er es angekündigt hat. Er läßt gleichsam den Glauben mit den Werken kämpfen und gruppiert den ganzen Kampf um den Gerechten (seligen Abraham). Nicht ohne guten Grund. Er gibt ihm einen ehrenden Titel, indem er ihn „Urvater“ nennt, und hebt damit die Notwendigkeit hervor, ihm in allem nachzufolgen. Er will etwa sagen: Nenne mir nicht irgendeinen Juden, führe nicht den oder jenen an; ich gehe zurück auf den ersten von allen, von dem die Beschneidung den Ursprung genommen hat. „Wenn nun Abraham“, sagt er, „durch die Werke gerechtfertigt worden ist, so hat er Ruhm, aber nicht bei Gott.“
Das ist etwas unklar gesprochen; ich muß es darum klarer machen. — Zweierlei Ruhm gibt es nämlich: einen solchen von den Werken her und einen andern vom Glauben. Durch die Wendung: „Wenn er durch die Werke gerechtfertigt worden ist, hat er Ruhm, aber nicht bei Gott“, zeigt der Apostel an, daß man auch vom Glauben einen Ruhm haben könne, und zwar einen S. b130 viel größeren. Die große Stärke dieses Beweises liegt vorzüglich darin, daß Paulus aus dem Gegensatz den Beweis führt: Das Erlangen des Heils durch die (eigenen) Werke gibt Grund, sich zu rühmen und zuversichtlich zu sein; aber viel mehr noch, zeigt er, ist dies beim Glauben der Fall. Denn wer sich mit seinen Werken rühmt, hat nur seine eigenen Mühen, die er in den Vordergrund stellen kann; wer sich dagegen rühmen darf, Gott geglaubt zu haben, der hat weit mehr Grund zum Rühmen, da er Gott dem Herrn Ehre erwiesen und ihn verherrlicht hat. Denn worauf ihn die sichtbare Natur nicht geführt hat, das hat er sich zeigen lassen durch den Glauben an Gott; und damit hat er eine echte Liebe zu ihm an den Tag gelegt und ist ein lauter Verkünder seiner Macht geworden. Das ist aber der Beweis für eine hochgemute Seele, ein vernünftiges Urteil und eine hohe Erkenntniskraft. Nicht stehlen und nicht töten, das treffen auch Durchschnittsmenschen; aber glauben, daß Gott auch Unmögliches vermag, dazu gehört eine hochgemute Seele, die sich Gott ganz und gar hingibt; das ist das Zeichen echter Liebe. Zwar erweist auch der Gott Ehre, welcher seine Gebote erfüllt; viel größere aber der, welcher durch den Glauben ein Weiser wird. Denn jener unterwirft sich Gott, dieser aber bekommt von ihm die richtige Ansicht, und dadurch ehrt und bewundert er ihn mehr, als wenn er es durch Gesetzeswerke tut. Ein solches Rühmen gilt nämlich dem Menschen, der diese Werke getan hat; das andere aber ist ein Verherrlichen Gottes und gilt ganz und gar nur Gott. Das Rühmen eines solchen besteht darin, daß er sich eine große Vorstellung von Gott macht, so daß die Ehre auf Gott übergeht. Darum spricht der Apostel, „bei Gott“ habe ein solcher Ruhm; aber nicht bloß in diesem Sinne, sondern auch noch in einem andern. Der Ruhm des Gläubigen besteht nämlich ferner auch darin, daß er nicht bloß Gott wahrhaft liebt, sondern auch darin, daß er vonseiten Gottes große Ehrung und Liebe erfährt. Wie er selbst Gott liebt, indem er sich eine große Vorstellung von ihm macht — das ist ja das Wesen der Liebe —, so liebt Gott wieder ihn, indem er ihn, den tausendfach Schuldigen, nicht nur von den S. b131 Strafen freispricht, sondern ihn auch zum Gerechten macht. Ein solcher hat also allen Grund, sich zu rühmen, da er (von Gott) großer Liebe würdig erachtet wird.
V. 3: „Denn was sagt die Schrift? Abraham glaubte Gott, und das ward ihm angerechnet zur Gerechtigkeit.“
V. 4: „Dem aber, der selbst Arbeit leistet, wird der Lohn nicht nach Gnade, sondern nach Schuldigkeit zuerkannt.“
Also ist das letztere mehr? fragst du. Keineswegs; denn auch dem, der glaubt, wird (ein Lohn) zuerkannt; es würde ihm aber ein solcher nicht zuerkannt werden, wenn er nicht auch selbst etwas dazu beigetragen hätte.
Röm. 1, 17. ↩
